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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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2. Der geschichtliche Gegensatz der Style wendet sich in diesem Gebiet
anders, als in den bildenden Künsten und in der Poesie. Dort ist der
classische Styl einfacher, uncolorirter, hier dagegen unendlich mannigfaltiger,
reicher, bunter, als der moderne. Von der Höhe, dem Umfang der Tanz-
kunst bei den Alten können wir uns nur schwer ein annäherendes Bild
machen. Damit scheint es in Widerspruch zu stehen, wenn der antike Tanz
als wesentlich objectiv im Gegensatze gegen den modernen bezeichnet werden
muß, denn die reichere Farbe und Fülle jener andern Künste im Style der
neueren Zeit hat ja gerade in der vertieften und erweiterten Subjectivität
ihren inneren Grund. Die Sache verhält sich aber hier so, daß gerade
die weniger entwickelte und in sich gegangene Subjectivität in ungleich
weiterer Ausdehnung es wagen wird, das Leben durch stumme Bewegung
darzustellen, weil sie eben ein Leben vor sich hat, wo alles Innere in die
Gestalt heraustritt. So ist denn also gerade die ursprüngliche Hauptform
des Tanzes streng objectiv: es ist der Tanz in seiner religiösen monumen-
talen Bedeutung als wesentlicher Theil des Cultus. Hier werden Thaten
und Leiden der Gottheit durch jene musikalisch geregelte Pantomime darge-
stellt, die aus der rhythmischen Massenbewegung des Chors heraustritt.
Vom Gottesdienste begibt sich die Orchestik auf die Bühne, aus dem Panto-
mimen wird der Schauspieler, der Chor und seine orchestische Bewegung
bleibt. Und so herrscht in allem Tanz, auch dem Festtanze, der nicht zur
Bühne gehört, zunächst das Gemeinschaftliche, die Gesammtbewegung von
Massen, was an sich schon objectiven Charakter trägt. Hiezu kommt nun
aber der reiche Inhalt dessen, was hier zur Darstellung kam: Weinlese,
ländliche Geschäfte verschiedener Art, kriegerischer Kampf, streng Objectives,
wie das Labyrinth von Kreta, menschliches Thun und Leiden aus dem
reichen Gebiete der Sage. In seiner höchsten Ausbildung schafft sich der
Tanz seine besondere Bühne, die ganze Mythologie, ein Stoff, der an
orchestischen Motiven unendlich reich war und um den unsere Balletmeister
die Alten beneiden müssen, wird durchgespielt, ja man tanzt Begriffe, wie
die Freiheit u. dergl. Neben dem höheren Kunsttanze schlingt sich der ge-
sellige in reicher Fülle, unendlichen Formen durch das Leben und schmückt
namentlich das Mahl. Aber auch dieser ist objectiv, nämlich in dem allge-
meineren Sinne, daß er mehr die Darstellung für die Zuschauer, als den
unmittelbaren Genuß für die Ausübenden zum Zweck hat. Die Geschlechter,
die bei Homer noch in den Reigen vereinigt sind, tanzen später durchaus
nur getrennt und gerade dieß begründet den mehr darstellenden Charakter,
denn wo sie vereinigt tanzen, nehmen sie die Freude für sich weg und
fragen wenig danach, wie es aussieht. So wurde allerdings auch der
gesellige Tanz zum größern Theile Kunsttanz, Tänzer und Tänzerinnen von
Profession tanzten bei Mahlen und andern Belustigungen; das Volk aber

2. Der geſchichtliche Gegenſatz der Style wendet ſich in dieſem Gebiet
anders, als in den bildenden Künſten und in der Poeſie. Dort iſt der
claſſiſche Styl einfacher, uncolorirter, hier dagegen unendlich mannigfaltiger,
reicher, bunter, als der moderne. Von der Höhe, dem Umfang der Tanz-
kunſt bei den Alten können wir uns nur ſchwer ein annäherendes Bild
machen. Damit ſcheint es in Widerſpruch zu ſtehen, wenn der antike Tanz
als weſentlich objectiv im Gegenſatze gegen den modernen bezeichnet werden
muß, denn die reichere Farbe und Fülle jener andern Künſte im Style der
neueren Zeit hat ja gerade in der vertieften und erweiterten Subjectivität
ihren inneren Grund. Die Sache verhält ſich aber hier ſo, daß gerade
die weniger entwickelte und in ſich gegangene Subjectivität in ungleich
weiterer Ausdehnung es wagen wird, das Leben durch ſtumme Bewegung
darzuſtellen, weil ſie eben ein Leben vor ſich hat, wo alles Innere in die
Geſtalt heraustritt. So iſt denn alſo gerade die urſprüngliche Hauptform
des Tanzes ſtreng objectiv: es iſt der Tanz in ſeiner religiöſen monumen-
talen Bedeutung als weſentlicher Theil des Cultus. Hier werden Thaten
und Leiden der Gottheit durch jene muſikaliſch geregelte Pantomime darge-
ſtellt, die aus der rhythmiſchen Maſſenbewegung des Chors heraustritt.
Vom Gottesdienſte begibt ſich die Orcheſtik auf die Bühne, aus dem Panto-
mimen wird der Schauſpieler, der Chor und ſeine orcheſtiſche Bewegung
bleibt. Und ſo herrſcht in allem Tanz, auch dem Feſttanze, der nicht zur
Bühne gehört, zunächſt das Gemeinſchaftliche, die Geſammtbewegung von
Maſſen, was an ſich ſchon objectiven Charakter trägt. Hiezu kommt nun
aber der reiche Inhalt deſſen, was hier zur Darſtellung kam: Weinleſe,
ländliche Geſchäfte verſchiedener Art, kriegeriſcher Kampf, ſtreng Objectives,
wie das Labyrinth von Kreta, menſchliches Thun und Leiden aus dem
reichen Gebiete der Sage. In ſeiner höchſten Ausbildung ſchafft ſich der
Tanz ſeine beſondere Bühne, die ganze Mythologie, ein Stoff, der an
orcheſtiſchen Motiven unendlich reich war und um den unſere Balletmeiſter
die Alten beneiden müſſen, wird durchgeſpielt, ja man tanzt Begriffe, wie
die Freiheit u. dergl. Neben dem höheren Kunſttanze ſchlingt ſich der ge-
ſellige in reicher Fülle, unendlichen Formen durch das Leben und ſchmückt
namentlich das Mahl. Aber auch dieſer iſt objectiv, nämlich in dem allge-
meineren Sinne, daß er mehr die Darſtellung für die Zuſchauer, als den
unmittelbaren Genuß für die Ausübenden zum Zweck hat. Die Geſchlechter,
die bei Homer noch in den Reigen vereinigt ſind, tanzen ſpäter durchaus
nur getrennt und gerade dieß begründet den mehr darſtellenden Charakter,
denn wo ſie vereinigt tanzen, nehmen ſie die Freude für ſich weg und
fragen wenig danach, wie es ausſieht. So wurde allerdings auch der
geſellige Tanz zum größern Theile Kunſttanz, Tänzer und Tänzerinnen von
Profeſſion tanzten bei Mahlen und andern Beluſtigungen; das Volk aber

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[1156/0394] 2. Der geſchichtliche Gegenſatz der Style wendet ſich in dieſem Gebiet anders, als in den bildenden Künſten und in der Poeſie. Dort iſt der claſſiſche Styl einfacher, uncolorirter, hier dagegen unendlich mannigfaltiger, reicher, bunter, als der moderne. Von der Höhe, dem Umfang der Tanz- kunſt bei den Alten können wir uns nur ſchwer ein annäherendes Bild machen. Damit ſcheint es in Widerſpruch zu ſtehen, wenn der antike Tanz als weſentlich objectiv im Gegenſatze gegen den modernen bezeichnet werden muß, denn die reichere Farbe und Fülle jener andern Künſte im Style der neueren Zeit hat ja gerade in der vertieften und erweiterten Subjectivität ihren inneren Grund. Die Sache verhält ſich aber hier ſo, daß gerade die weniger entwickelte und in ſich gegangene Subjectivität in ungleich weiterer Ausdehnung es wagen wird, das Leben durch ſtumme Bewegung darzuſtellen, weil ſie eben ein Leben vor ſich hat, wo alles Innere in die Geſtalt heraustritt. So iſt denn alſo gerade die urſprüngliche Hauptform des Tanzes ſtreng objectiv: es iſt der Tanz in ſeiner religiöſen monumen- talen Bedeutung als weſentlicher Theil des Cultus. Hier werden Thaten und Leiden der Gottheit durch jene muſikaliſch geregelte Pantomime darge- ſtellt, die aus der rhythmiſchen Maſſenbewegung des Chors heraustritt. Vom Gottesdienſte begibt ſich die Orcheſtik auf die Bühne, aus dem Panto- mimen wird der Schauſpieler, der Chor und ſeine orcheſtiſche Bewegung bleibt. Und ſo herrſcht in allem Tanz, auch dem Feſttanze, der nicht zur Bühne gehört, zunächſt das Gemeinſchaftliche, die Geſammtbewegung von Maſſen, was an ſich ſchon objectiven Charakter trägt. Hiezu kommt nun aber der reiche Inhalt deſſen, was hier zur Darſtellung kam: Weinleſe, ländliche Geſchäfte verſchiedener Art, kriegeriſcher Kampf, ſtreng Objectives, wie das Labyrinth von Kreta, menſchliches Thun und Leiden aus dem reichen Gebiete der Sage. In ſeiner höchſten Ausbildung ſchafft ſich der Tanz ſeine beſondere Bühne, die ganze Mythologie, ein Stoff, der an orcheſtiſchen Motiven unendlich reich war und um den unſere Balletmeiſter die Alten beneiden müſſen, wird durchgeſpielt, ja man tanzt Begriffe, wie die Freiheit u. dergl. Neben dem höheren Kunſttanze ſchlingt ſich der ge- ſellige in reicher Fülle, unendlichen Formen durch das Leben und ſchmückt namentlich das Mahl. Aber auch dieſer iſt objectiv, nämlich in dem allge- meineren Sinne, daß er mehr die Darſtellung für die Zuſchauer, als den unmittelbaren Genuß für die Ausübenden zum Zweck hat. Die Geſchlechter, die bei Homer noch in den Reigen vereinigt ſind, tanzen ſpäter durchaus nur getrennt und gerade dieß begründet den mehr darſtellenden Charakter, denn wo ſie vereinigt tanzen, nehmen ſie die Freude für ſich weg und fragen wenig danach, wie es ausſieht. So wurde allerdings auch der geſellige Tanz zum größern Theile Kunſttanz, Tänzer und Tänzerinnen von Profeſſion tanzten bei Mahlen und andern Beluſtigungen; das Volk aber

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/394>, abgerufen am 21.11.2024.