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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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in der Hauptsache, in der Zeichnung vom Material frei ist, irgend sein
kann. -- Allein diesem Satze, daß in der Musik "das Material die Com-
position bedingt," steht ebenso auch der andere, scheinbar widersprechende
gegenüber, daß nämlich das Tonmaterial durch die musikalische Phantasie
bedingt ist, daß es durch sie erst zu Tage gefördert und für die Zwecke der
Composition zubereitet, organisirt, künstlerisch gestaltet werden muß. Das
Material der Musik ist nicht ein einfach empirisch gegebenes, wie bei den
bildenden Künsten, denen es der Hauptsache nach bereits zur Hand ist,
wenn sie ihr Werk beginnen; es ist nur da als ein in der Natur ange-
legtes, aus ihr heraus zu entwickelndes, nicht aber als fertiges; es ist selbst
Kunstproduct, es ist ein Erzeugniß der musikalischen Phantasie, die an
Körpern und körperlichen Organen die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr
wird und durch diese Wahrnehmung angeregt, die Töne und deren Ver-
bindungen, auf welchen die Musik beruht, selbst erst hervorbringt, ordnet
und ausbildet. Daher namentlich die eigenthümliche Erscheinung, daß das
musikalische Material nach Umfang und Beschaffenheit wesentlich abhängt
von dem Standpunct der Ausbildung, auf welchem die musikalische Phan-
tasie selbst angekommen ist; wie die ausgebildetere Malerei selbst neue Farb-
stoffe sucht, um den künstlerischen Bedürfnissen und Anforderungen, die auf
höhern Bildungsstufen entstehen, Genüge zu thun, so und zwar in noch
weit höherem Maaß ist es auch bei der Musik; es gibt Zeiten und Völker,
bei denen ein großer Theil dessen, was wir Tonmaterial nennen, ganz
unbekannt oder doch ungenützt blieb, und daher auch die Ausbildung nicht
erhielt, deren es an sich fähig ist (Tongeschlechter, Harmonie, rhyth-
mische Formen u. s. w.). Das Tonmaterial muß, ehe es wirklich Material
für die Kunst werden kann, eine Reihe von Gestaltungen durchlaufen, die
sich keineswegs gleich von selbst verstehen; dasselbe ist empirisch zunächst blos
gegeben als eine noch ganz unbestimmte, ungeordnete, innerhalb ihrer selbst
beziehungslose Mannigfaltigkeit einer Masse von Einzeltönen und Klängen,
mittelst welchen noch kein Kunstwerk von schöner Form oder von bestimmtem
Inhalt und Charakter zu Stande zu bringen wäre; dieser chaotischen Ele-
mentargestalt muß es entkleidet und zu einem geordneten, bildsamen Ton-
system erhoben werden; es muß z. B. Klarheit und Gefälligkeit der Ton-
folge hergestellt, es müssen die charakteristischen Tonunterschiede und Ton-
verhältnisse, ohne die das Tonmaterial keine Möglichkeit mannigfaltiger
Combinationen und concreter Bildungen darböte, z. B. die Unterschiede
höherer und niederer Tongebiete, die Eigenthümlichkeiten der Intervalle, die
harmonischen Verhältnisse zu Tage gefördert, es muß endlich auch rhyth-
mische Ordnung und Gliederung hinzugebracht sein; dann erst ist das
Material vollständig da und vollkommen brauchbar. Dieß Alles, wie
namentlich die Intervall- und Harmonieverhältnisse, ist wohl von Natur

in der Hauptſache, in der Zeichnung vom Material frei iſt, irgend ſein
kann. — Allein dieſem Satze, daß in der Muſik „das Material die Com-
poſition bedingt,“ ſteht ebenſo auch der andere, ſcheinbar widerſprechende
gegenüber, daß nämlich das Tonmaterial durch die muſikaliſche Phantaſie
bedingt iſt, daß es durch ſie erſt zu Tage gefördert und für die Zwecke der
Compoſition zubereitet, organiſirt, künſtleriſch geſtaltet werden muß. Das
Material der Muſik iſt nicht ein einfach empiriſch gegebenes, wie bei den
bildenden Künſten, denen es der Hauptſache nach bereits zur Hand iſt,
wenn ſie ihr Werk beginnen; es iſt nur da als ein in der Natur ange-
legtes, aus ihr heraus zu entwickelndes, nicht aber als fertiges; es iſt ſelbſt
Kunſtproduct, es iſt ein Erzeugniß der muſikaliſchen Phantaſie, die an
Körpern und körperlichen Organen die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr
wird und durch dieſe Wahrnehmung angeregt, die Töne und deren Ver-
bindungen, auf welchen die Muſik beruht, ſelbſt erſt hervorbringt, ordnet
und ausbildet. Daher namentlich die eigenthümliche Erſcheinung, daß das
muſikaliſche Material nach Umfang und Beſchaffenheit weſentlich abhängt
von dem Standpunct der Ausbildung, auf welchem die muſikaliſche Phan-
taſie ſelbſt angekommen iſt; wie die ausgebildetere Malerei ſelbſt neue Farb-
ſtoffe ſucht, um den künſtleriſchen Bedürfniſſen und Anforderungen, die auf
höhern Bildungsſtufen entſtehen, Genüge zu thun, ſo und zwar in noch
weit höherem Maaß iſt es auch bei der Muſik; es gibt Zeiten und Völker,
bei denen ein großer Theil deſſen, was wir Tonmaterial nennen, ganz
unbekannt oder doch ungenützt blieb, und daher auch die Ausbildung nicht
erhielt, deren es an ſich fähig iſt (Tongeſchlechter, Harmonie, rhyth-
miſche Formen u. ſ. w.). Das Tonmaterial muß, ehe es wirklich Material
für die Kunſt werden kann, eine Reihe von Geſtaltungen durchlaufen, die
ſich keineswegs gleich von ſelbſt verſtehen; daſſelbe iſt empiriſch zunächſt blos
gegeben als eine noch ganz unbeſtimmte, ungeordnete, innerhalb ihrer ſelbſt
beziehungsloſe Mannigfaltigkeit einer Maſſe von Einzeltönen und Klängen,
mittelſt welchen noch kein Kunſtwerk von ſchöner Form oder von beſtimmtem
Inhalt und Charakter zu Stande zu bringen wäre; dieſer chaotiſchen Ele-
mentargeſtalt muß es entkleidet und zu einem geordneten, bildſamen Ton-
ſyſtem erhoben werden; es muß z. B. Klarheit und Gefälligkeit der Ton-
folge hergeſtellt, es müſſen die charakteriſtiſchen Tonunterſchiede und Ton-
verhältniſſe, ohne die das Tonmaterial keine Möglichkeit mannigfaltiger
Combinationen und concreter Bildungen darböte, z. B. die Unterſchiede
höherer und niederer Tongebiete, die Eigenthümlichkeiten der Intervalle, die
harmoniſchen Verhältniſſe zu Tage gefördert, es muß endlich auch rhyth-
miſche Ordnung und Gliederung hinzugebracht ſein; dann erſt iſt das
Material vollſtändig da und vollkommen brauchbar. Dieß Alles, wie
namentlich die Intervall- und Harmonieverhältniſſe, iſt wohl von Natur

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[842/0080] in der Hauptſache, in der Zeichnung vom Material frei iſt, irgend ſein kann. — Allein dieſem Satze, daß in der Muſik „das Material die Com- poſition bedingt,“ ſteht ebenſo auch der andere, ſcheinbar widerſprechende gegenüber, daß nämlich das Tonmaterial durch die muſikaliſche Phantaſie bedingt iſt, daß es durch ſie erſt zu Tage gefördert und für die Zwecke der Compoſition zubereitet, organiſirt, künſtleriſch geſtaltet werden muß. Das Material der Muſik iſt nicht ein einfach empiriſch gegebenes, wie bei den bildenden Künſten, denen es der Hauptſache nach bereits zur Hand iſt, wenn ſie ihr Werk beginnen; es iſt nur da als ein in der Natur ange- legtes, aus ihr heraus zu entwickelndes, nicht aber als fertiges; es iſt ſelbſt Kunſtproduct, es iſt ein Erzeugniß der muſikaliſchen Phantaſie, die an Körpern und körperlichen Organen die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr wird und durch dieſe Wahrnehmung angeregt, die Töne und deren Ver- bindungen, auf welchen die Muſik beruht, ſelbſt erſt hervorbringt, ordnet und ausbildet. Daher namentlich die eigenthümliche Erſcheinung, daß das muſikaliſche Material nach Umfang und Beſchaffenheit weſentlich abhängt von dem Standpunct der Ausbildung, auf welchem die muſikaliſche Phan- taſie ſelbſt angekommen iſt; wie die ausgebildetere Malerei ſelbſt neue Farb- ſtoffe ſucht, um den künſtleriſchen Bedürfniſſen und Anforderungen, die auf höhern Bildungsſtufen entſtehen, Genüge zu thun, ſo und zwar in noch weit höherem Maaß iſt es auch bei der Muſik; es gibt Zeiten und Völker, bei denen ein großer Theil deſſen, was wir Tonmaterial nennen, ganz unbekannt oder doch ungenützt blieb, und daher auch die Ausbildung nicht erhielt, deren es an ſich fähig iſt (Tongeſchlechter, Harmonie, rhyth- miſche Formen u. ſ. w.). Das Tonmaterial muß, ehe es wirklich Material für die Kunſt werden kann, eine Reihe von Geſtaltungen durchlaufen, die ſich keineswegs gleich von ſelbſt verſtehen; daſſelbe iſt empiriſch zunächſt blos gegeben als eine noch ganz unbeſtimmte, ungeordnete, innerhalb ihrer ſelbſt beziehungsloſe Mannigfaltigkeit einer Maſſe von Einzeltönen und Klängen, mittelſt welchen noch kein Kunſtwerk von ſchöner Form oder von beſtimmtem Inhalt und Charakter zu Stande zu bringen wäre; dieſer chaotiſchen Ele- mentargeſtalt muß es entkleidet und zu einem geordneten, bildſamen Ton- ſyſtem erhoben werden; es muß z. B. Klarheit und Gefälligkeit der Ton- folge hergeſtellt, es müſſen die charakteriſtiſchen Tonunterſchiede und Ton- verhältniſſe, ohne die das Tonmaterial keine Möglichkeit mannigfaltiger Combinationen und concreter Bildungen darböte, z. B. die Unterſchiede höherer und niederer Tongebiete, die Eigenthümlichkeiten der Intervalle, die harmoniſchen Verhältniſſe zu Tage gefördert, es muß endlich auch rhyth- miſche Ordnung und Gliederung hinzugebracht ſein; dann erſt iſt das Material vollſtändig da und vollkommen brauchbar. Dieß Alles, wie namentlich die Intervall- und Harmonieverhältniſſe, iſt wohl von Natur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 842. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/80>, abgerufen am 26.11.2024.