zu entlegen, als daß sie ohne die Mittelstufe der Quart von ihm aus leicht zu erreichen wären; die große Septime (15 : 8) klingt bereits wie ein Uebergang zum Octaventon (16 : 8), leitet aber ebendeßwegen zu ihm mit zwingender Gewalt hinüber und hat in dieser Eigenschaft (als "Leitton") allerdings wiederum eine besondere Bedeutung. In ähnlicher Weise ist das Gefühl auch bei der Erhebung vom Grundton zur kleinen Septime nicht beruhigt, sondern muß nothwendig entweder zur großen und durch sie zur Octav vollends hinauf oder zur Sext und von da weiter bis zur Quart herabgehen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das Zahlenverhältniß der großen Secund ist, indem auch hier wie oben, zwei Verhältnisse neben einander Geltung haben, entweder 9 : 10 (kleiner) oder 8 : 9 (großer Ganz- ton), das des großen Halbtons 15 : 16, des kleinen 24 : 25; für das Ge- fühl liegt die große Secund zwischen Prim und Terz in der Mitte als die von jener aus sich natürlich ergebende und klar zur Terz hinüberführende Tonstufe, ein Verhältniß, das sich auch bei der kleinen Secund im Ver- hältniß zur großen wiederholt. -- Gemeinsam ist all diesen Intervall- verhältnissen, die auf unser Gehör den Eindruck des Natürlichen und Bestimmten machen, daß sie sich durch Zahlen ausdrücken, in welchen überall 2, 3, 5 die letzten Factoren sind. Wo versuchsweise Zahlen wie 7, 11 u. s. w. als Factoren von Schwingungsgeschwindigkeiten genommen werden (7 : 8 und dergl.), da entstehen Tonverhältnisse, die den Eindruck des Unklaren, Verschwommenen machen; es muß, wie es scheint, wenn das Gefühl eines ansprechenden Tonintervalls entstehen soll, das Verhältniß der Schwingungsgeschwindigkeiten und der durch sie hervorgebrachten Er- regungen des Gehörorganes ein möglichst einfaches sein; die Verhältnisse von 1 zu 2 (4 zu 8 u. s. f.), 2 zu 3 (3 zu 4 u. s. f.), 2 oder 3 zu 5 (4 zu 5, 5 zu 6 u. s. f.) sprechen allein oder vereinigt (z. B. 4, 5, 6 = Prim, Terz, Quint) Gefühl und Geist an durch das einfach Propor- tionirte, leicht Zusammenzuschauende, das sie an sich haben. Der Geist strebt von Natur nothwendig nach Einheit, nach einfach klarer Pro- portion des Verschiedenen und vernimmt daher eine solche überall mit Befriedigung; am größten ist diese Befriedigung bei dem Verhältniß 1 : 2, beim Zusammentreffen der doppelt so starken mit der hälftigen Erregung, indem hier der Rhythmus der Bewegung dem Grundverhältniß nach ganz identisch ist und jede der beiden Bewegungen auf die andere als mit ihr identisch hin- und zurückweist; schon geringer, aber doch durch die leichte Vergleichbarkeit der beiderseitigen Tempozahlen immer noch groß genug ist die Befriedigung bei dem Verhältniß 2 : 3, 3 : 4, 8 : 9, 4 : 5, weil hier zweitheilige, gerade, und dreitheilige, ungerade Rhythmen einander gegen- übertreten; weit geringer aber bei den Verhältnissen, wo nicht 2 und 3 oder 5, sondern zwei ungerade, 3 und 5, einander gegenüberstehen und
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zu entlegen, als daß ſie ohne die Mittelſtufe der Quart von ihm aus leicht zu erreichen wären; die große Septime (15 : 8) klingt bereits wie ein Uebergang zum Octaventon (16 : 8), leitet aber ebendeßwegen zu ihm mit zwingender Gewalt hinüber und hat in dieſer Eigenſchaft (als „Leitton“) allerdings wiederum eine beſondere Bedeutung. In ähnlicher Weiſe iſt das Gefühl auch bei der Erhebung vom Grundton zur kleinen Septime nicht beruhigt, ſondern muß nothwendig entweder zur großen und durch ſie zur Octav vollends hinauf oder zur Sext und von da weiter bis zur Quart herabgehen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das Zahlenverhältniß der großen Secund iſt, indem auch hier wie oben, zwei Verhältniſſe neben einander Geltung haben, entweder 9 : 10 (kleiner) oder 8 : 9 (großer Ganz- ton), das des großen Halbtons 15 : 16, des kleinen 24 : 25; für das Ge- fühl liegt die große Secund zwiſchen Prim und Terz in der Mitte als die von jener aus ſich natürlich ergebende und klar zur Terz hinüberführende Tonſtufe, ein Verhältniß, das ſich auch bei der kleinen Secund im Ver- hältniß zur großen wiederholt. — Gemeinſam iſt all dieſen Intervall- verhältniſſen, die auf unſer Gehör den Eindruck des Natürlichen und Beſtimmten machen, daß ſie ſich durch Zahlen ausdrücken, in welchen überall 2, 3, 5 die letzten Factoren ſind. Wo verſuchsweiſe Zahlen wie 7, 11 u. ſ. w. als Factoren von Schwingungsgeſchwindigkeiten genommen werden (7 : 8 und dergl.), da entſtehen Tonverhältniſſe, die den Eindruck des Unklaren, Verſchwommenen machen; es muß, wie es ſcheint, wenn das Gefühl eines anſprechenden Tonintervalls entſtehen ſoll, das Verhältniß der Schwingungsgeſchwindigkeiten und der durch ſie hervorgebrachten Er- regungen des Gehörorganes ein möglichſt einfaches ſein; die Verhältniſſe von 1 zu 2 (4 zu 8 u. ſ. f.), 2 zu 3 (3 zu 4 u. ſ. f.), 2 oder 3 zu 5 (4 zu 5, 5 zu 6 u. ſ. f.) ſprechen allein oder vereinigt (z. B. 4, 5, 6 = Prim, Terz, Quint) Gefühl und Geiſt an durch das einfach Propor- tionirte, leicht Zuſammenzuſchauende, das ſie an ſich haben. Der Geiſt ſtrebt von Natur nothwendig nach Einheit, nach einfach klarer Pro- portion des Verſchiedenen und vernimmt daher eine ſolche überall mit Befriedigung; am größten iſt dieſe Befriedigung bei dem Verhältniß 1 : 2, beim Zuſammentreffen der doppelt ſo ſtarken mit der hälftigen Erregung, indem hier der Rhythmus der Bewegung dem Grundverhältniß nach ganz identiſch iſt und jede der beiden Bewegungen auf die andere als mit ihr identiſch hin- und zurückweist; ſchon geringer, aber doch durch die leichte Vergleichbarkeit der beiderſeitigen Tempozahlen immer noch groß genug iſt die Befriedigung bei dem Verhältniß 2 : 3, 3 : 4, 8 : 9, 4 : 5, weil hier zweitheilige, gerade, und dreitheilige, ungerade Rhythmen einander gegen- übertreten; weit geringer aber bei den Verhältniſſen, wo nicht 2 und 3 oder 5, ſondern zwei ungerade, 3 und 5, einander gegenüberſtehen und
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zu entlegen, als daß ſie ohne die Mittelſtufe der Quart von ihm aus leicht
zu erreichen wären; die große Septime (15 : 8) klingt bereits wie ein
Uebergang zum Octaventon (16 : 8), leitet aber ebendeßwegen zu ihm mit
zwingender Gewalt hinüber und hat in dieſer Eigenſchaft (als „Leitton“)
allerdings wiederum eine beſondere Bedeutung. In ähnlicher Weiſe iſt das
Gefühl auch bei der Erhebung vom Grundton zur kleinen Septime nicht
beruhigt, ſondern muß nothwendig entweder zur großen und durch ſie zur
Octav vollends hinauf oder zur Sext und von da weiter bis zur Quart
herabgehen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Das Zahlenverhältniß der
großen Secund iſt, indem auch hier wie oben, zwei Verhältniſſe neben
einander Geltung haben, entweder 9 : 10 (kleiner) oder 8 : 9 (großer Ganz-
ton), das des großen Halbtons 15 : 16, des kleinen 24 : 25; für das Ge-
fühl liegt die große Secund zwiſchen Prim und Terz in der Mitte als die
von jener aus ſich natürlich ergebende und klar zur Terz hinüberführende
Tonſtufe, ein Verhältniß, das ſich auch bei der kleinen Secund im Ver-
hältniß zur großen wiederholt. — Gemeinſam iſt all dieſen Intervall-
verhältniſſen, die auf unſer Gehör den Eindruck des Natürlichen und
Beſtimmten machen, daß ſie ſich durch Zahlen ausdrücken, in welchen
überall 2, 3, 5 die letzten Factoren ſind. Wo verſuchsweiſe Zahlen wie
7, 11 u. ſ. w. als Factoren von Schwingungsgeſchwindigkeiten genommen
werden (7 : 8 und dergl.), da entſtehen Tonverhältniſſe, die den Eindruck
des Unklaren, Verſchwommenen machen; es muß, wie es ſcheint, wenn
das Gefühl eines anſprechenden Tonintervalls entſtehen ſoll, das Verhältniß
der Schwingungsgeſchwindigkeiten und der durch ſie hervorgebrachten Er-
regungen des Gehörorganes ein möglichſt einfaches ſein; die Verhältniſſe
von 1 zu 2 (4 zu 8 u. ſ. f.), 2 zu 3 (3 zu 4 u. ſ. f.), 2 oder 3 zu 5
(4 zu 5, 5 zu 6 u. ſ. f.) ſprechen allein oder vereinigt (z. B. 4, 5, 6
= Prim, Terz, Quint) Gefühl und Geiſt an durch das einfach Propor-
tionirte, leicht Zuſammenzuſchauende, das ſie an ſich haben. Der Geiſt
ſtrebt von Natur nothwendig nach Einheit, nach einfach klarer Pro-
portion des Verſchiedenen und vernimmt daher eine ſolche überall mit
Befriedigung; am größten iſt dieſe Befriedigung bei dem Verhältniß 1 : 2,
beim Zuſammentreffen der doppelt ſo ſtarken mit der hälftigen Erregung,
indem hier der Rhythmus der Bewegung dem Grundverhältniß nach ganz
identiſch iſt und jede der beiden Bewegungen auf die andere als mit ihr
identiſch hin- und zurückweist; ſchon geringer, aber doch durch die leichte
Vergleichbarkeit der beiderſeitigen Tempozahlen immer noch groß genug iſt
die Befriedigung bei dem Verhältniß 2 : 3, 3 : 4, 8 : 9, 4 : 5, weil hier
zweitheilige, gerade, und dreitheilige, ungerade Rhythmen einander gegen-
übertreten; weit geringer aber bei den Verhältniſſen, wo nicht 2 und 3
oder 5, ſondern zwei ungerade, 3 und 5, einander gegenüberſtehen und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 857. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/95>, abgerufen am 23.11.2024.
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