Weise angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen gelten und beide gezählt werden. Indem sich aber daneben die natürlichen Längen, verschiedene Stufen der Betonung, die Verschiebung des Accents durch Zusammensetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent den Wort-Accent kreuzt, entsteht ein Gebilde, dessen Körper von dem Geiste, der sich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen ist. Diese Brechung der plasti- schen Schönheit fordert einen Ersatz; derselbe ist gegeben in dem malerischen und der eigentlichen Musik näher verwandten Mittel des Reims.
1. Wir nennen diesen Styl (dessen Spuren sich übrigens auch in dem Saturnischen Verse der ältesten römischen Poesie und, wie zu §. 859 be- rührt ist, im Hebräischen und Neupersischen finden) vorerst germanisch, weil er dem Deutschen und Skandinavischen gemein ist, nachher in seiner ver- änderten Gestalt deutsch, weil nur in unserer Dichtung diese entstanden und wahrhaft durchgeführt ist. Von der romanischen (und englischen) Poesie nachher in Kürze das Nöthige. -- Jener ursprünglich germanische Styl bindet nun die Verse allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieses rhythmische Gesetz steht aber schon ursprünglich in untrennbarem Zusammen- hang mit der Sprache, es vollstreckt sich also schlechthin nur im Einklange mit dem Wort-Accent und so heißen die Accente Hebungen. Hebungen sind Sylben, die in der Sprache an sich accentuirt sind und der Rhythmik die geforderten Accente herstellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen können zwischen die Hebungen in verschiedener Anzahl treten oder ganz fehlen; das Gesetz gibt sie frei und es wird dadurch jene nach dem Unter- schiede des Sprach-Inhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher zu §. 858 die Rede war. Es wird also nicht gemessen, sondern gewogen, die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, sie kommen aber als solche schlechthin nicht in Betracht; die Hebung ist in allen Sylben, die lang sind, wohl zugleich Länge, aber diese Seite geht die Rhythmik nichts an, die Stufen, Modificationen, verschiedenen Stellungen der Länge zu der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht er- zeugen, von welchen nachher die Rede sein wird, weil Metrum im eigent- lichen Sinne des Worts gar nicht besteht; ob z. B. Jahrhundert als Amphibrachy's gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Da- gegen bereiten die verschiedenen Stufen der Betonung, da der starke wie der schwache Ton sich noch in Grade theilt, gewisse Schwierigkeiten, in die wir uns aber hier nicht einlassen können. Die Hebung gehört nun im Wesentlichen der Wurzelsylbe an, gewisse Bildungssylben und stärkere Flexions- sylben treten daneben allerdings noch mit demselben Anspruch auf, doch ist jenes das Entscheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die Herrschaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des
Weiſe angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen gelten und beide gezählt werden. Indem ſich aber daneben die natürlichen Längen, verſchiedene Stufen der Betonung, die Verſchiebung des Accents durch Zuſammenſetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent den Wort-Accent kreuzt, entſteht ein Gebilde, deſſen Körper von dem Geiſte, der ſich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen iſt. Dieſe Brechung der plaſti- ſchen Schönheit fordert einen Erſatz; derſelbe iſt gegeben in dem maleriſchen und der eigentlichen Muſik näher verwandten Mittel des Reims.
1. Wir nennen dieſen Styl (deſſen Spuren ſich übrigens auch in dem Saturniſchen Verſe der älteſten römiſchen Poeſie und, wie zu §. 859 be- rührt iſt, im Hebräiſchen und Neuperſiſchen finden) vorerſt germaniſch, weil er dem Deutſchen und Skandinaviſchen gemein iſt, nachher in ſeiner ver- änderten Geſtalt deutſch, weil nur in unſerer Dichtung dieſe entſtanden und wahrhaft durchgeführt iſt. Von der romaniſchen (und engliſchen) Poeſie nachher in Kürze das Nöthige. — Jener urſprünglich germaniſche Styl bindet nun die Verſe allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieſes rhythmiſche Geſetz ſteht aber ſchon urſprünglich in untrennbarem Zuſammen- hang mit der Sprache, es vollſtreckt ſich alſo ſchlechthin nur im Einklange mit dem Wort-Accent und ſo heißen die Accente Hebungen. Hebungen ſind Sylben, die in der Sprache an ſich accentuirt ſind und der Rhythmik die geforderten Accente herſtellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen können zwiſchen die Hebungen in verſchiedener Anzahl treten oder ganz fehlen; das Geſetz gibt ſie frei und es wird dadurch jene nach dem Unter- ſchiede des Sprach-Inhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher zu §. 858 die Rede war. Es wird alſo nicht gemeſſen, ſondern gewogen, die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, ſie kommen aber als ſolche ſchlechthin nicht in Betracht; die Hebung iſt in allen Sylben, die lang ſind, wohl zugleich Länge, aber dieſe Seite geht die Rhythmik nichts an, die Stufen, Modificationen, verſchiedenen Stellungen der Länge zu der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht er- zeugen, von welchen nachher die Rede ſein wird, weil Metrum im eigent- lichen Sinne des Worts gar nicht beſteht; ob z. B. Jahrhundert als Amphibrachy’s gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Da- gegen bereiten die verſchiedenen Stufen der Betonung, da der ſtarke wie der ſchwache Ton ſich noch in Grade theilt, gewiſſe Schwierigkeiten, in die wir uns aber hier nicht einlaſſen können. Die Hebung gehört nun im Weſentlichen der Wurzelſylbe an, gewiſſe Bildungsſylben und ſtärkere Flexions- ſylben treten daneben allerdings noch mit demſelben Anſpruch auf, doch iſt jenes das Entſcheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die Herrſchaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des
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Weiſe angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen
gelten und beide gezählt werden. Indem ſich aber daneben die natürlichen
Längen, verſchiedene Stufen der Betonung, die Verſchiebung des Accents durch
Zuſammenſetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent
den Wort-Accent kreuzt, entſteht ein Gebilde, deſſen Körper von dem Geiſte,
der ſich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen iſt. Dieſe Brechung der plaſti-
ſchen Schönheit fordert einen Erſatz; derſelbe iſt gegeben in dem maleriſchen
und der eigentlichen Muſik näher verwandten Mittel des Reims.
1. Wir nennen dieſen Styl (deſſen Spuren ſich übrigens auch in dem
Saturniſchen Verſe der älteſten römiſchen Poeſie und, wie zu §. 859 be-
rührt iſt, im Hebräiſchen und Neuperſiſchen finden) vorerſt germaniſch, weil
er dem Deutſchen und Skandinaviſchen gemein iſt, nachher in ſeiner ver-
änderten Geſtalt deutſch, weil nur in unſerer Dichtung dieſe entſtanden und
wahrhaft durchgeführt iſt. Von der romaniſchen (und engliſchen) Poeſie
nachher in Kürze das Nöthige. — Jener urſprünglich germaniſche Styl
bindet nun die Verſe allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieſes
rhythmiſche Geſetz ſteht aber ſchon urſprünglich in untrennbarem Zuſammen-
hang mit der Sprache, es vollſtreckt ſich alſo ſchlechthin nur im Einklange
mit dem Wort-Accent und ſo heißen die Accente Hebungen. Hebungen
ſind Sylben, die in der Sprache an ſich accentuirt ſind und der Rhythmik
die geforderten Accente herſtellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen
können zwiſchen die Hebungen in verſchiedener Anzahl treten oder ganz
fehlen; das Geſetz gibt ſie frei und es wird dadurch jene nach dem Unter-
ſchiede des Sprach-Inhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher
zu §. 858 die Rede war. Es wird alſo nicht gemeſſen, ſondern gewogen,
die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, ſie kommen aber als
ſolche ſchlechthin nicht in Betracht; die Hebung iſt in allen Sylben, die
lang ſind, wohl zugleich Länge, aber dieſe Seite geht die Rhythmik nichts
an, die Stufen, Modificationen, verſchiedenen Stellungen der Länge zu
der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht er-
zeugen, von welchen nachher die Rede ſein wird, weil Metrum im eigent-
lichen Sinne des Worts gar nicht beſteht; ob z. B. Jahrhundert als
Amphibrachy’s gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Da-
gegen bereiten die verſchiedenen Stufen der Betonung, da der ſtarke wie
der ſchwache Ton ſich noch in Grade theilt, gewiſſe Schwierigkeiten, in die
wir uns aber hier nicht einlaſſen können. Die Hebung gehört nun im
Weſentlichen der Wurzelſylbe an, gewiſſe Bildungsſylben und ſtärkere Flexions-
ſylben treten daneben allerdings noch mit demſelben Anſpruch auf, doch iſt
jenes das Entſcheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die
Herrſchaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/115>, abgerufen am 18.02.2025.
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