Wirkung im Gefühle nach und so bringt er entschieden ein der musikalischen Harmonie Verwandtes in die dichterische Form. In ihr vereinigt sich ver- schiedene Melodie in Einem Gange: der Reim hat aber auch dieß in der Kreuzung, Verschränkung verschiedener sich entsprechender Folgen, in der Anreihung solcher Folgen zur Strophe, in der Wiederkehr gleicher Strophen mit verschiedenen Reimen. Die Harmonie in der Musik haben wir (vergl. §. 757) als Ausdruck vervielfachter Resonanz Einer Empfindung in dem- selben Gemüthe oder in dem Gemüthe Mehrerer gefaßt: dasselbe vertiefte, erweiterte Gefühlsleben drückt das Echo des Reimes aus, ein liebendes Herüber und Hinüber, Neigen und Beugen, das bezeugt, daß die Welt der Gegenstände mit anderer Innigkeit und Vielseitigkeit, als durch das blos gewogene und gemessene Wort, in's Herz zurückgeschlungen und hier ver- arbeitet wird. Nun aber ist zunächst wohl zu beachten, daß an sich die Reimwörter einander nichts angehen. Wenige Wörter sind so sinnverwandt wie Mark und Stark, Leben und Streben. Indem der Reim uns dennoch zwingt, das Fremde, Entlegene wie ein lebendig Einiges zusammenzufassen, gleicht er dem Witze (vergl. §. 193); sein tertium comparationis ist die Gleichheit des Klangs und diese freilich noch ein ungleich schwächeres, äußerlicheres Band, als die Aehnlichkeit der Eigenschaften zwischen den Dingen, die der Witz zu seinem Spiele verwendet, ausgenommen das Wort- spiel und speziell das Klang-Wortspiel, das wegen seiner nahen Verwandt- schaft oft genug in Reim-Reihen übergeht. Wenn aber der Reim nach dieser Seite willkürlicher, äußerlicher scheint, als der, doch so kalte, Witz, so vergesse man nicht, was zwischen und in den Reimwörtern liegt: wirk- licher, empfundener Inhalt. Der Witz springt momentan, unvermittelt von Entlegenem zu Entlegenem, das er scheinbar identisch setzt; die reimende Poesie vermittelt Reihen tief gefühlter Vorstellungen und wenn der Gleich- klang des Reims sie an ihren Enden zusammenfaßt, als wären sie eben durch ihn wirklich verwandt, wie sie es durch ihn allein vielmehr noch nicht sind, so wird nun der wirkliche Zusammenhang des Inhalts, den die Reime binden, unwillkürlich und unbewußt vom Gefühl auf den Gleichklang so übergetragen, als ergänze er, was diesem an wahrer, innerer Bindung der Vorstellungen an sich mangelt. Dieß ist der tiefe, der seelenvolle Reiz in der Willkür des Reimspieles: man fühlt immer wieder, daß der Gleichklang nicht wahre Einheit des Inhalts ist, und läßt sich immer wieder täuschen, indem man ihm wirklichen inneren Zusammenhang zusetzt und zurechnet. Allerdings sollen eben darum nicht bedeutungslose Wörter zu Reimen ver- wendet werden, außer in komischer Absicht, wo dann das Reimspiel zum wirklichen Witzspiele wird. Hierüber namentlich vergl. Poggel Grundzüge einer Theorie des Reims und der Gleichklänge u. s. w., ein Werk voll tiefen und feinen Sinns für das Geheimniß dieser Form der poetischen Technik. --
81*
Wirkung im Gefühle nach und ſo bringt er entſchieden ein der muſikaliſchen Harmonie Verwandtes in die dichteriſche Form. In ihr vereinigt ſich ver- ſchiedene Melodie in Einem Gange: der Reim hat aber auch dieß in der Kreuzung, Verſchränkung verſchiedener ſich entſprechender Folgen, in der Anreihung ſolcher Folgen zur Strophe, in der Wiederkehr gleicher Strophen mit verſchiedenen Reimen. Die Harmonie in der Muſik haben wir (vergl. §. 757) als Ausdruck vervielfachter Reſonanz Einer Empfindung in dem- ſelben Gemüthe oder in dem Gemüthe Mehrerer gefaßt: daſſelbe vertiefte, erweiterte Gefühlsleben drückt das Echo des Reimes aus, ein liebendes Herüber und Hinüber, Neigen und Beugen, das bezeugt, daß die Welt der Gegenſtände mit anderer Innigkeit und Vielſeitigkeit, als durch das blos gewogene und gemeſſene Wort, in’s Herz zurückgeſchlungen und hier ver- arbeitet wird. Nun aber iſt zunächſt wohl zu beachten, daß an ſich die Reimwörter einander nichts angehen. Wenige Wörter ſind ſo ſinnverwandt wie Mark und Stark, Leben und Streben. Indem der Reim uns dennoch zwingt, das Fremde, Entlegene wie ein lebendig Einiges zuſammenzufaſſen, gleicht er dem Witze (vergl. §. 193); ſein tertium comparationis iſt die Gleichheit des Klangs und dieſe freilich noch ein ungleich ſchwächeres, äußerlicheres Band, als die Aehnlichkeit der Eigenſchaften zwiſchen den Dingen, die der Witz zu ſeinem Spiele verwendet, ausgenommen das Wort- ſpiel und ſpeziell das Klang-Wortſpiel, das wegen ſeiner nahen Verwandt- ſchaft oft genug in Reim-Reihen übergeht. Wenn aber der Reim nach dieſer Seite willkürlicher, äußerlicher ſcheint, als der, doch ſo kalte, Witz, ſo vergeſſe man nicht, was zwiſchen und in den Reimwörtern liegt: wirk- licher, empfundener Inhalt. Der Witz ſpringt momentan, unvermittelt von Entlegenem zu Entlegenem, das er ſcheinbar identiſch ſetzt; die reimende Poeſie vermittelt Reihen tief gefühlter Vorſtellungen und wenn der Gleich- klang des Reims ſie an ihren Enden zuſammenfaßt, als wären ſie eben durch ihn wirklich verwandt, wie ſie es durch ihn allein vielmehr noch nicht ſind, ſo wird nun der wirkliche Zuſammenhang des Inhalts, den die Reime binden, unwillkürlich und unbewußt vom Gefühl auf den Gleichklang ſo übergetragen, als ergänze er, was dieſem an wahrer, innerer Bindung der Vorſtellungen an ſich mangelt. Dieß iſt der tiefe, der ſeelenvolle Reiz in der Willkür des Reimſpieles: man fühlt immer wieder, daß der Gleichklang nicht wahre Einheit des Inhalts iſt, und läßt ſich immer wieder täuſchen, indem man ihm wirklichen inneren Zuſammenhang zuſetzt und zurechnet. Allerdings ſollen eben darum nicht bedeutungsloſe Wörter zu Reimen ver- wendet werden, außer in komiſcher Abſicht, wo dann das Reimſpiel zum wirklichen Witzſpiele wird. Hierüber namentlich vergl. Poggel Grundzüge einer Theorie des Reims und der Gleichklänge u. ſ. w., ein Werk voll tiefen und feinen Sinns für das Geheimniß dieſer Form der poetiſchen Technik. —
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Wirkung im Gefühle nach und ſo bringt er entſchieden ein der muſikaliſchen
Harmonie Verwandtes in die dichteriſche Form. In ihr vereinigt ſich ver-
ſchiedene Melodie in Einem Gange: der Reim hat aber auch dieß in der
Kreuzung, Verſchränkung verſchiedener ſich entſprechender Folgen, in der
Anreihung ſolcher Folgen zur Strophe, in der Wiederkehr gleicher Strophen
mit verſchiedenen Reimen. Die Harmonie in der Muſik haben wir (vergl.
§. 757) als Ausdruck vervielfachter Reſonanz Einer Empfindung in dem-
ſelben Gemüthe oder in dem Gemüthe Mehrerer gefaßt: daſſelbe vertiefte,
erweiterte Gefühlsleben drückt das Echo des Reimes aus, ein liebendes
Herüber und Hinüber, Neigen und Beugen, das bezeugt, daß die Welt der
Gegenſtände mit anderer Innigkeit und Vielſeitigkeit, als durch das blos
gewogene und gemeſſene Wort, in’s Herz zurückgeſchlungen und hier ver-
arbeitet wird. Nun aber iſt zunächſt wohl zu beachten, daß an ſich die
Reimwörter einander nichts angehen. Wenige Wörter ſind ſo ſinnverwandt
wie Mark und Stark, Leben und Streben. Indem der Reim uns dennoch
zwingt, das Fremde, Entlegene wie ein lebendig Einiges zuſammenzufaſſen,
gleicht er dem Witze (vergl. §. 193); ſein tertium comparationis iſt die
Gleichheit des Klangs und dieſe freilich noch ein ungleich ſchwächeres,
äußerlicheres Band, als die Aehnlichkeit der Eigenſchaften zwiſchen den
Dingen, die der Witz zu ſeinem Spiele verwendet, ausgenommen das Wort-
ſpiel und ſpeziell das Klang-Wortſpiel, das wegen ſeiner nahen Verwandt-
ſchaft oft genug in Reim-Reihen übergeht. Wenn aber der Reim nach
dieſer Seite willkürlicher, äußerlicher ſcheint, als der, doch ſo kalte, Witz,
ſo vergeſſe man nicht, was zwiſchen und in den Reimwörtern liegt: wirk-
licher, empfundener Inhalt. Der Witz ſpringt momentan, unvermittelt von
Entlegenem zu Entlegenem, das er ſcheinbar identiſch ſetzt; die reimende
Poeſie vermittelt Reihen tief gefühlter Vorſtellungen und wenn der Gleich-
klang des Reims ſie an ihren Enden zuſammenfaßt, als wären ſie eben
durch ihn wirklich verwandt, wie ſie es durch ihn allein vielmehr noch nicht
ſind, ſo wird nun der wirkliche Zuſammenhang des Inhalts, den die Reime
binden, unwillkürlich und unbewußt vom Gefühl auf den Gleichklang ſo
übergetragen, als ergänze er, was dieſem an wahrer, innerer Bindung der
Vorſtellungen an ſich mangelt. Dieß iſt der tiefe, der ſeelenvolle Reiz in
der Willkür des Reimſpieles: man fühlt immer wieder, daß der Gleichklang
nicht wahre Einheit des Inhalts iſt, und läßt ſich immer wieder täuſchen,
indem man ihm wirklichen inneren Zuſammenhang zuſetzt und zurechnet.
Allerdings ſollen eben darum nicht bedeutungsloſe Wörter zu Reimen ver-
wendet werden, außer in komiſcher Abſicht, wo dann das Reimſpiel zum
wirklichen Witzſpiele wird. Hierüber namentlich vergl. Poggel Grundzüge
einer Theorie des Reims und der Gleichklänge u. ſ. w., ein Werk voll tiefen
und feinen Sinns für das Geheimniß dieſer Form der poetiſchen Technik. —
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/121>, abgerufen am 18.02.2025.
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