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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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auf Geſchichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auf-
faſſung, die er hinzubringt, arbeitet aus jener Spannung der Kräfte auf
den Moment, der ſich geſchichtlich verewigt, die rein menſchlichen Züge und
die Zuſtände heraus, die ſich unter den Jahrzahlen der Geſchichte im ruhigen
Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe,
werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuſtändlichen gerückt. Man
könnte näher auf das geſchichtliche Sittenbild hinweiſen, namentlich bei dem
hiſtoriſchen Romane.

§. 868.

Durch dieſe Fülle des Inhalts gibt die epiſche Poeſie ein ganzes Welt-
bild
: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Geſammtheit ſeiner Zuſtände,
und darin ausdrücklicher, als es andere Kunſtformen vermögen, einen Spiegel
des Menſchenlebens überhaupt, alſo eine Totalität. Dieſes Gemälde der
breiten Verkettung des Weltverlaufs iſt durchdrungen von Schickſalsgefühl, aber
das Schickſal waltet im Sinne des Verhängniſſes, d. h. als das Ergebniß
dunkler Zuſammenwirkung unendlicher äußerer Urſachen mit dem menſchlichen
Willen; der Zufall ſpielt darin eine Rolle, die ſich rechtfertigt, das Tragiſche
in ſeiner erſten Form, als Geſetz des Univerſums, entſpricht weſentlich dem
ganzen Standpuncte, der Ausgang aber iſt zwar nicht nothwendig, doch vor-
herrſchend ein glücklicher.

Totalität im intenſiven Sinne iſt Grundbeſtimmung alles Schönen
als eines Mikrokoſmus; in keinem Zweige der Kunſt gilt ſie ſo ſehr auch
im extenſiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch ſeine Breite ein relativ
Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der
Kunſt: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungs-
zuſtands, Strebens, dazu im Conflicte mit andern geſchildert. Der Roman,
wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder
nur als Hintergrund in ſich aufnimmt, gibt doch in ſeiner wahren Geſtalt
ebenfalls ein umfaſſendes Bild der Geſellſchaft, Nation, Zeit. Die kleineren
Formen, Idylle und Novelle, können keinen Einwand gegen dieſe Natur
der epiſchen Poeſie begründen, denn auch ſie dehnen doch ihre Darſtellung
ſo vielſeitig auf die Lebenszuſtände aus, daß von dem zwar engeren Saum
überall die ſichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorſtellung der
Zuſtände des größeren Kreiſes knüpfen. Nun iſt natürlich zwiſchen dem
ſehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches ſich in der epiſchen Dichtung vor
uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menſchheit, Geſchichte und
Natur die Kluft an ſich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ
Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich ſehr viel

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/136>, abgerufen am 18.02.2025.