auf Geschichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auf- fassung, die er hinzubringt, arbeitet aus jener Spannung der Kräfte auf den Moment, der sich geschichtlich verewigt, die rein menschlichen Züge und die Zustände heraus, die sich unter den Jahrzahlen der Geschichte im ruhigen Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe, werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuständlichen gerückt. Man könnte näher auf das geschichtliche Sittenbild hinweisen, namentlich bei dem historischen Romane.
§. 868.
Durch diese Fülle des Inhalts gibt die epische Poesie ein ganzes Welt- bild: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Gesammtheit seiner Zustände, und darin ausdrücklicher, als es andere Kunstformen vermögen, einen Spiegel des Menschenlebens überhaupt, also eine Totalität. Dieses Gemälde der breiten Verkettung des Weltverlaufs ist durchdrungen von Schicksalsgefühl, aber das Schicksal waltet im Sinne des Verhängnisses, d. h. als das Ergebniß dunkler Zusammenwirkung unendlicher äußerer Ursachen mit dem menschlichen Willen; der Zufall spielt darin eine Rolle, die sich rechtfertigt, das Tragische in seiner ersten Form, als Gesetz des Universums, entspricht wesentlich dem ganzen Standpuncte, der Ausgang aber ist zwar nicht nothwendig, doch vor- herrschend ein glücklicher.
Totalität im intensiven Sinne ist Grundbestimmung alles Schönen als eines Mikrokosmus; in keinem Zweige der Kunst gilt sie so sehr auch im extensiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch seine Breite ein relativ Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der Kunst: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungs- zustands, Strebens, dazu im Conflicte mit andern geschildert. Der Roman, wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder nur als Hintergrund in sich aufnimmt, gibt doch in seiner wahren Gestalt ebenfalls ein umfassendes Bild der Gesellschaft, Nation, Zeit. Die kleineren Formen, Idylle und Novelle, können keinen Einwand gegen diese Natur der epischen Poesie begründen, denn auch sie dehnen doch ihre Darstellung so vielseitig auf die Lebenszustände aus, daß von dem zwar engeren Saum überall die sichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorstellung der Zustände des größeren Kreises knüpfen. Nun ist natürlich zwischen dem sehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches sich in der epischen Dichtung vor uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menschheit, Geschichte und Natur die Kluft an sich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich sehr viel
auf Geſchichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auf- faſſung, die er hinzubringt, arbeitet aus jener Spannung der Kräfte auf den Moment, der ſich geſchichtlich verewigt, die rein menſchlichen Züge und die Zuſtände heraus, die ſich unter den Jahrzahlen der Geſchichte im ruhigen Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe, werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuſtändlichen gerückt. Man könnte näher auf das geſchichtliche Sittenbild hinweiſen, namentlich bei dem hiſtoriſchen Romane.
§. 868.
Durch dieſe Fülle des Inhalts gibt die epiſche Poeſie ein ganzes Welt- bild: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Geſammtheit ſeiner Zuſtände, und darin ausdrücklicher, als es andere Kunſtformen vermögen, einen Spiegel des Menſchenlebens überhaupt, alſo eine Totalität. Dieſes Gemälde der breiten Verkettung des Weltverlaufs iſt durchdrungen von Schickſalsgefühl, aber das Schickſal waltet im Sinne des Verhängniſſes, d. h. als das Ergebniß dunkler Zuſammenwirkung unendlicher äußerer Urſachen mit dem menſchlichen Willen; der Zufall ſpielt darin eine Rolle, die ſich rechtfertigt, das Tragiſche in ſeiner erſten Form, als Geſetz des Univerſums, entſpricht weſentlich dem ganzen Standpuncte, der Ausgang aber iſt zwar nicht nothwendig, doch vor- herrſchend ein glücklicher.
Totalität im intenſiven Sinne iſt Grundbeſtimmung alles Schönen als eines Mikrokoſmus; in keinem Zweige der Kunſt gilt ſie ſo ſehr auch im extenſiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch ſeine Breite ein relativ Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der Kunſt: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungs- zuſtands, Strebens, dazu im Conflicte mit andern geſchildert. Der Roman, wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder nur als Hintergrund in ſich aufnimmt, gibt doch in ſeiner wahren Geſtalt ebenfalls ein umfaſſendes Bild der Geſellſchaft, Nation, Zeit. Die kleineren Formen, Idylle und Novelle, können keinen Einwand gegen dieſe Natur der epiſchen Poeſie begründen, denn auch ſie dehnen doch ihre Darſtellung ſo vielſeitig auf die Lebenszuſtände aus, daß von dem zwar engeren Saum überall die ſichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorſtellung der Zuſtände des größeren Kreiſes knüpfen. Nun iſt natürlich zwiſchen dem ſehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches ſich in der epiſchen Dichtung vor uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menſchheit, Geſchichte und Natur die Kluft an ſich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich ſehr viel
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[1272/0136]
auf Geſchichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auf-
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den Moment, der ſich geſchichtlich verewigt, die rein menſchlichen Züge und
die Zuſtände heraus, die ſich unter den Jahrzahlen der Geſchichte im ruhigen
Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe,
werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuſtändlichen gerückt. Man
könnte näher auf das geſchichtliche Sittenbild hinweiſen, namentlich bei dem
hiſtoriſchen Romane.
§. 868.
Durch dieſe Fülle des Inhalts gibt die epiſche Poeſie ein ganzes Welt-
bild: ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Geſammtheit ſeiner Zuſtände,
und darin ausdrücklicher, als es andere Kunſtformen vermögen, einen Spiegel
des Menſchenlebens überhaupt, alſo eine Totalität. Dieſes Gemälde der
breiten Verkettung des Weltverlaufs iſt durchdrungen von Schickſalsgefühl, aber
das Schickſal waltet im Sinne des Verhängniſſes, d. h. als das Ergebniß
dunkler Zuſammenwirkung unendlicher äußerer Urſachen mit dem menſchlichen
Willen; der Zufall ſpielt darin eine Rolle, die ſich rechtfertigt, das Tragiſche
in ſeiner erſten Form, als Geſetz des Univerſums, entſpricht weſentlich dem
ganzen Standpuncte, der Ausgang aber iſt zwar nicht nothwendig, doch vor-
herrſchend ein glücklicher.
Totalität im intenſiven Sinne iſt Grundbeſtimmung alles Schönen
als eines Mikrokoſmus; in keinem Zweige der Kunſt gilt ſie ſo ſehr auch
im extenſiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch ſeine Breite ein relativ
Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der
Kunſt: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungs-
zuſtands, Strebens, dazu im Conflicte mit andern geſchildert. Der Roman,
wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder
nur als Hintergrund in ſich aufnimmt, gibt doch in ſeiner wahren Geſtalt
ebenfalls ein umfaſſendes Bild der Geſellſchaft, Nation, Zeit. Die kleineren
Formen, Idylle und Novelle, können keinen Einwand gegen dieſe Natur
der epiſchen Poeſie begründen, denn auch ſie dehnen doch ihre Darſtellung
ſo vielſeitig auf die Lebenszuſtände aus, daß von dem zwar engeren Saum
überall die ſichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorſtellung der
Zuſtände des größeren Kreiſes knüpfen. Nun iſt natürlich zwiſchen dem
ſehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches ſich in der epiſchen Dichtung vor
uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menſchheit, Geſchichte und
Natur die Kluft an ſich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ
Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich ſehr viel
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/136>, abgerufen am 18.02.2025.
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