werden können: daraus folgt, daß diese großen Unterschiede in einem allgemeinen, abstracten Gebiet außerhalb und vor denjenigen Gebieten behandelt werden müssen, wo das Schöne ausdrücklich zuerst im Objecte, dann im Subjecte gefunden wird, d. h. daß sie in einer Metaphysik des Schönen ihren Platz fordern. So liegt die Sache; mag man diese Gründe widerlegen, bis jetzt hat man sie meines Wissens noch nicht einmal bedacht.
Eine schwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der Musik ist nur im ersten, allgemeinen Theile (§. 746 -- 766) und in dem Anhange von der Tanzkunst (§. 833) von mir ausgeführt. Ein Freund, der philosophische Bildung mit tieferer Kenntniß der Musik vereinigt, Dr.Carl Köstlin, Professor in Tübingen, auf theologischem Gebiete durch historisch kritische Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings durch philosophische Vorträge auf der genannten Universität mit Beifall und Erfolg thätig, hat die übrigen Theile übernommen und im Anfange seiner Arbeit einiges freundlich überlassene Material von einem in die physikalischen Grundlagen und das technische System der Musik noch spezieller Eingeweihten, der nicht genannt sein will, benützt. Der Ent- schluß wurde von beiden Seiten nicht früher gefaßt, als bis sich bei unsern Besprechungen ergeben hatte, daß Prof. Köstlin mit meinen Grundgedanken, insbesondere mit meiner leitenden Idee eines Gegensatzes von zwei Styl- prinzipien, der alle Künste und ihre Geschichte beherrscht, sich in völliger Uebereinstimmung fand. Er hat sich, wie ich, zur Aufgabe gemacht, den Begriff ganz in das Concrete hineinzuarbeiten, durch die Elemente, Formen, Zweige der Musik vollständig und systematisch durchzuführen, und er muß bei solcher Natur seiner Arbeit ebenso lebhaft, als ich bei der meinigen, wünschen, daß man das Ganze liest, ehe man es beurtheilt. Ich hoffe, daß der Unterschied der zweierlei Hände nicht allzufühlbar sein, sich nicht als störende Kluft darstellen werde; ich kann freilich nicht die Verant- wortung für jedes Einzelne übernehmen, aber ich freue mich, durch eine Kraft von solcher Tiefe, Fülle, Schärfe und Feinheit des Eindringens unterstützt worden zu sein. Ganz ruhig ist mein Gewissen allerdings nicht dabei, daß ich dieser Unterstützung bedurfte; ich bekenne hier eine tiefe und traurige Lücke in meiner Bildung. Ich habe in dem Alter, wo man es soll, weil man es kann, keine Musik gelernt; es war ein Versäumniß in
werden können: daraus folgt, daß dieſe großen Unterſchiede in einem allgemeinen, abſtracten Gebiet außerhalb und vor denjenigen Gebieten behandelt werden müſſen, wo das Schöne ausdrücklich zuerſt im Objecte, dann im Subjecte gefunden wird, d. h. daß ſie in einer Metaphyſik des Schönen ihren Platz fordern. So liegt die Sache; mag man dieſe Gründe widerlegen, bis jetzt hat man ſie meines Wiſſens noch nicht einmal bedacht.
Eine ſchwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der Muſik iſt nur im erſten, allgemeinen Theile (§. 746 — 766) und in dem Anhange von der Tanzkunſt (§. 833) von mir ausgeführt. Ein Freund, der philoſophiſche Bildung mit tieferer Kenntniß der Muſik vereinigt, Dr.Carl Köſtlin, Profeſſor in Tübingen, auf theologiſchem Gebiete durch hiſtoriſch kritiſche Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings durch philoſophiſche Vorträge auf der genannten Univerſität mit Beifall und Erfolg thätig, hat die übrigen Theile übernommen und im Anfange ſeiner Arbeit einiges freundlich überlaſſene Material von einem in die phyſikaliſchen Grundlagen und das techniſche Syſtem der Muſik noch ſpezieller Eingeweihten, der nicht genannt ſein will, benützt. Der Ent- ſchluß wurde von beiden Seiten nicht früher gefaßt, als bis ſich bei unſern Beſprechungen ergeben hatte, daß Prof. Köſtlin mit meinen Grundgedanken, insbeſondere mit meiner leitenden Idee eines Gegenſatzes von zwei Styl- prinzipien, der alle Künſte und ihre Geſchichte beherrſcht, ſich in völliger Uebereinſtimmung fand. Er hat ſich, wie ich, zur Aufgabe gemacht, den Begriff ganz in das Concrete hineinzuarbeiten, durch die Elemente, Formen, Zweige der Muſik vollſtändig und ſyſtematiſch durchzuführen, und er muß bei ſolcher Natur ſeiner Arbeit ebenſo lebhaft, als ich bei der meinigen, wünſchen, daß man das Ganze liest, ehe man es beurtheilt. Ich hoffe, daß der Unterſchied der zweierlei Hände nicht allzufühlbar ſein, ſich nicht als ſtörende Kluft darſtellen werde; ich kann freilich nicht die Verant- wortung für jedes Einzelne übernehmen, aber ich freue mich, durch eine Kraft von ſolcher Tiefe, Fülle, Schärfe und Feinheit des Eindringens unterſtützt worden zu ſein. Ganz ruhig iſt mein Gewiſſen allerdings nicht dabei, daß ich dieſer Unterſtützung bedurfte; ich bekenne hier eine tiefe und traurige Lücke in meiner Bildung. Ich habe in dem Alter, wo man es ſoll, weil man es kann, keine Muſik gelernt; es war ein Verſäumniß in
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[IX/0015]
werden können: daraus folgt, daß dieſe großen Unterſchiede in einem
allgemeinen, abſtracten Gebiet außerhalb und vor denjenigen Gebieten
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dann im Subjecte gefunden wird, d. h. daß ſie in einer Metaphyſik des
Schönen ihren Platz fordern. So liegt die Sache; mag man dieſe
Gründe widerlegen, bis jetzt hat man ſie meines Wiſſens noch nicht
einmal bedacht.
Eine ſchwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der
Muſik iſt nur im erſten, allgemeinen Theile (§. 746 — 766) und
in dem Anhange von der Tanzkunſt (§. 833) von mir ausgeführt.
Ein Freund, der philoſophiſche Bildung mit tieferer Kenntniß der Muſik
vereinigt, Dr. Carl Köſtlin, Profeſſor in Tübingen, auf theologiſchem
Gebiete durch hiſtoriſch kritiſche Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings
durch philoſophiſche Vorträge auf der genannten Univerſität mit Beifall
und Erfolg thätig, hat die übrigen Theile übernommen und im Anfange
ſeiner Arbeit einiges freundlich überlaſſene Material von einem in die
phyſikaliſchen Grundlagen und das techniſche Syſtem der Muſik noch
ſpezieller Eingeweihten, der nicht genannt ſein will, benützt. Der Ent-
ſchluß wurde von beiden Seiten nicht früher gefaßt, als bis ſich bei unſern
Beſprechungen ergeben hatte, daß Prof. Köſtlin mit meinen Grundgedanken,
insbeſondere mit meiner leitenden Idee eines Gegenſatzes von zwei Styl-
prinzipien, der alle Künſte und ihre Geſchichte beherrſcht, ſich in völliger
Uebereinſtimmung fand. Er hat ſich, wie ich, zur Aufgabe gemacht, den
Begriff ganz in das Concrete hineinzuarbeiten, durch die Elemente, Formen,
Zweige der Muſik vollſtändig und ſyſtematiſch durchzuführen, und er muß
bei ſolcher Natur ſeiner Arbeit ebenſo lebhaft, als ich bei der meinigen,
wünſchen, daß man das Ganze liest, ehe man es beurtheilt. Ich hoffe,
daß der Unterſchied der zweierlei Hände nicht allzufühlbar ſein, ſich nicht
als ſtörende Kluft darſtellen werde; ich kann freilich nicht die Verant-
wortung für jedes Einzelne übernehmen, aber ich freue mich, durch eine
Kraft von ſolcher Tiefe, Fülle, Schärfe und Feinheit des Eindringens
unterſtützt worden zu ſein. Ganz ruhig iſt mein Gewiſſen allerdings nicht
dabei, daß ich dieſer Unterſtützung bedurfte; ich bekenne hier eine tiefe und
traurige Lücke in meiner Bildung. Ich habe in dem Alter, wo man es
ſoll, weil man es kann, keine Muſik gelernt; es war ein Verſäumniß in
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/15>, abgerufen am 21.11.2024.
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