Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
Novelle spielen mögen; ohne Bocaccio's Naivetät ist auch dieß von Tieck Wir hätten nun hier mancherlei schwer zu bestimmende Nebenformen zu 2. Die Novelle führt uns zum Idyll (oder, um bei dem Sprach- Vischer's Aesthetik. 4. Band. 85
Novelle ſpielen mögen; ohne Bocaccio’s Naivetät iſt auch dieß von Tieck Wir hätten nun hier mancherlei ſchwer zu beſtimmende Nebenformen zu 2. Die Novelle führt uns zum Idyll (oder, um bei dem Sprach- Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 85
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Novelle ſpielen mögen; ohne Bocaccio’s Naivetät iſt auch dieß von Tieck
(im Phantaſus), Göthe und And. nachgeahmt. — Eine gegen den Roman
hin erweiterte Novelle ſind Göthe’s Wahlverwandtſchaften, ſie bleiben aber
in ihrer Grundlage feſt auf dem Boden der Dichtart, denn ſie ſchildern
nicht einen ganzen Entwicklungsgang einer Perſönlichkeit, die Hauptperſonen
ſind beziehungsweiſe reif; eine einzelne, verfängliche Lebensfrage, die Frage
über das Verhältniß zwiſchen Freiheit, Pflicht, Selbſtbeherrſchung und
dunkeln phyſiologiſch-pſychiſchen Gewalten, die Individuum an Individuum
bannen, bildet den weſentlichen, ächt novellenhaft ſpannenden Inhalt und
nur die breite Fülle der Darſtellung bringt den Romancharakter hinzu. —
Wir hätten nun hier mancherlei ſchwer zu beſtimmende Nebenformen zu
beſprechen, ſagen aber nur ein Wort von der ſog. poetiſchen Erzählung.
Sie hätte ſchon neben dem claſſiſchen Epos erwähnt werden können, ſie
läuft aber ebenſo neben dem Roman und auch der Novelle her. Dort er-
ſcheint ſie, wie z. B. die Erzählungen einzelner Thaten des Herkules bei
Theokrit, als eine epiſche Studie, ein Eidyllion, aber im hohen Style, nur
ohne die Weihe, welche die Einreihung in den Zuſammenhang des großen
Weltbildes gibt. Soll zwiſchen der poetiſchen Erzählung der neueren Zeit
und der Novelle ein feſter Unterſchied angegeben werden, ſo kann er nur
darin liegen, daß jene entweder im Sinne des Hinneigens zum Hiſtoriſchen,
oder zum Didaktiſchen mehr ſtoffartig iſt, wiewohl ſie im Uebrigen ihre
Materie mit mehr oder weniger Selbſtthätigkeit der Kunſt umbilden mag.
Hoch ſtehen in der erſteren Gattung trotz der Bitterkeit, die ſie verdüſtert,
an Kunſttalent die Erzählungen Heinrich’s von Kleiſt. Die zweite Gattung
war in der Periode, die der Revolution in der neueren Poeſie vorangieng,
ſehr beliebt; man trug in anekdotenhaftem Gewande gern ſchalkhafte oder
rührende Pointen, Sätze der Lebenserfahrung, Menſchenkenntniß vor, wie
Gellert, Lichtwehr, Pfeffel. Dieſe Sachen waren, um ihnen etwas mehr
Schein zu geben, verſificirt; ſie blühten gleichzeitig mit der Fabel und ſind
ihr verwandt.
2. Die Novelle führt uns zum Idyll (oder, um bei dem Sprach-
gebrauche zu bleiben, der die moderne Form mit einem grammatiſchen
Genusfehler zu bezeichnen einmal gewohnt iſt,) zur Idylle zurück. Das
claſſiſche Sittenbildchen wird in der modernen Zeit vor Allem der Com-
poſition nach erweitert: der bloße Keim einer Handlung, der in ihm lag,
entwickelt ſich, es bekommt eine Fabel, wird Erzählung, daher auch größer
an Umfang. Es erhellt ſchon daraus, daß dieſer Zweig höhere Wichtigkeit
erhalten hat, und der innere Grund liegt darin, daß eine Stimmung, die
wir nur erſt als ganz ſchwachen Anhauch im claſſiſchen Idyll gefunden
haben, nunmehr völlig ausgebildet den Charakter der Gattung beſtimmt:
das Gefühl der Unnatur in der gebildeten Geſellſchaft, der Härte und Kälte
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