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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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ablenkenden Aufgabe zum Trotz, also gerade mit doppeltem Nachdrucke
sich geltend machen. -- Der allgemeine Satz führt sogleich zu der Frage
nach der Composition und hier bewährt sich, was von der Schwäche
des Unterschieds der Style gesagt ist, daran, daß gerade der direct ideale,
classische Styl auf seiner Höhe am vollständigsten ausgebildet hat, was man
die lyrische Unordnung nennt. Sie hat sich vorzüglich in der Ode festge-
setzt; Pindar componirt wahrhaft labyrinthisch, knüpft Fäden an, läßt sie
wieder fallen und flicht sie erst am Ende so zusammen, daß die Bedeutung
klar wird (vergl. u. A. Otfr. Müller Gesch. d. griech. Lit. B. 1, S. 409 ff.).
Diese vielbesprochene Art der Anlage, das Abspringen zu weit von einander
entlegenen Gegenständen, das scheinbar gesetzlose, der bloßen Einbildungs-
kraft angehörige Spiel der Verknüpfung der Vorstellungen erklärt sich leicht
daraus, daß die wirkliche Ordnung eine subjective ist und die objectiven
Elemente aus dem Einen Gesichtspuncte der Stimmung verbindet. Diese
schwebt über der Welt, wie ein Magnet, an den auf Kosten des sächlichen
Zusammenhangs Jedwedes anschießt, was eine wesentliche Seite der Be-
ziehung zu ihm hat, oder sie kann mit dem schwebenden Vogel im Anfange
von Göthe's Harzreise im Winter verglichen werden: "Dem Geier gleich,
der auf schweren Morgenwolken mit sanftem Fittig ruhend nach Beute
schaut, schwebe mein Lied!" Man wird sich hierüber klare Rechenschaft geben,
wenn man an sich selbst beobachtet, wie im Zustande entschiedener Gefühls-
stimmung die Phantasie umherschweift, als handle sie, vom Denken nicht
überwacht, ganz willkürlich für sich; man wird sich zuerst wundern, wenn
man sich darauf besinnt, bei wie fremdartigen Gegenständen sie herumgeirrt
ist, hernach aber sich überzeugen, daß sie im Dienste des Einen Grundge-
fühls gehandelt hat. Der Wahnsinn als fixe Idee ist ein krankhafter Ver-
lust des ganzen Geistes in diesen Zustand, dem die Kunst als einem Zu-
stand unter andern freie ästhetische Form gibt: er sieht alle Dinge außerhalb
der richtigen Ordnung nur im Zusammenhang mit Einer habituell gewor-
denen Vorstellung, Empfindung; Blitz, Donner, Sturm und Regen, Edgar's
Erscheinung, Gloster's feinen Hut und alles Andere bezieht Lear nur auf
den Undank seiner Töchter. Die Phantasie kann auf dieser scheinbaren
Irrfahrt bei diesem oder jenem Bild auch länger verweilen, als der sprung-
weis bewegte Charakter der Dichtung es zuzugeben scheint, und man kann
dieß Episode nennen. Dahin gehören z. B. die mythischen Erzählungen
Pindar's, wie die des Argonautenzugs im Pythischen Gedicht auf den Ky-
renäischen König Arkesilas, allein das herrschende Gefühl ruft die Phantasie
von diesem Verweilen doch ungleich rascher zurück, als die epische Anschauung;
so im gegebenen Beispiele, wo jenes Bild nur dient, die Größe des Kyre-
näischen Königsgeschlechts durch den Ruhm der Argonauten, von denen es
abstammt, zu verherrlichen. In der modernen Lyrik werden solche Episoden-

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 86

ablenkenden Aufgabe zum Trotz, alſo gerade mit doppeltem Nachdrucke
ſich geltend machen. — Der allgemeine Satz führt ſogleich zu der Frage
nach der Compoſition und hier bewährt ſich, was von der Schwäche
des Unterſchieds der Style geſagt iſt, daran, daß gerade der direct ideale,
claſſiſche Styl auf ſeiner Höhe am vollſtändigſten ausgebildet hat, was man
die lyriſche Unordnung nennt. Sie hat ſich vorzüglich in der Ode feſtge-
ſetzt; Pindar componirt wahrhaft labyrinthiſch, knüpft Fäden an, läßt ſie
wieder fallen und flicht ſie erſt am Ende ſo zuſammen, daß die Bedeutung
klar wird (vergl. u. A. Otfr. Müller Geſch. d. griech. Lit. B. 1, S. 409 ff.).
Dieſe vielbeſprochene Art der Anlage, das Abſpringen zu weit von einander
entlegenen Gegenſtänden, das ſcheinbar geſetzloſe, der bloßen Einbildungs-
kraft angehörige Spiel der Verknüpfung der Vorſtellungen erklärt ſich leicht
daraus, daß die wirkliche Ordnung eine ſubjective iſt und die objectiven
Elemente aus dem Einen Geſichtspuncte der Stimmung verbindet. Dieſe
ſchwebt über der Welt, wie ein Magnet, an den auf Koſten des ſächlichen
Zuſammenhangs Jedwedes anſchießt, was eine weſentliche Seite der Be-
ziehung zu ihm hat, oder ſie kann mit dem ſchwebenden Vogel im Anfange
von Göthe’s Harzreiſe im Winter verglichen werden: „Dem Geier gleich,
der auf ſchweren Morgenwolken mit ſanftem Fittig ruhend nach Beute
ſchaut, ſchwebe mein Lied!“ Man wird ſich hierüber klare Rechenſchaft geben,
wenn man an ſich ſelbſt beobachtet, wie im Zuſtande entſchiedener Gefühls-
ſtimmung die Phantaſie umherſchweift, als handle ſie, vom Denken nicht
überwacht, ganz willkürlich für ſich; man wird ſich zuerſt wundern, wenn
man ſich darauf beſinnt, bei wie fremdartigen Gegenſtänden ſie herumgeirrt
iſt, hernach aber ſich überzeugen, daß ſie im Dienſte des Einen Grundge-
fühls gehandelt hat. Der Wahnſinn als fixe Idee iſt ein krankhafter Ver-
luſt des ganzen Geiſtes in dieſen Zuſtand, dem die Kunſt als einem Zu-
ſtand unter andern freie äſthetiſche Form gibt: er ſieht alle Dinge außerhalb
der richtigen Ordnung nur im Zuſammenhang mit Einer habituell gewor-
denen Vorſtellung, Empfindung; Blitz, Donner, Sturm und Regen, Edgar’s
Erſcheinung, Gloſter’s feinen Hut und alles Andere bezieht Lear nur auf
den Undank ſeiner Töchter. Die Phantaſie kann auf dieſer ſcheinbaren
Irrfahrt bei dieſem oder jenem Bild auch länger verweilen, als der ſprung-
weis bewegte Charakter der Dichtung es zuzugeben ſcheint, und man kann
dieß Epiſode nennen. Dahin gehören z. B. die mythiſchen Erzählungen
Pindar’s, wie die des Argonautenzugs im Pythiſchen Gedicht auf den Ky-
renäiſchen König Arkeſilas, allein das herrſchende Gefühl ruft die Phantaſie
von dieſem Verweilen doch ungleich raſcher zurück, als die epiſche Anſchauung;
ſo im gegebenen Beiſpiele, wo jenes Bild nur dient, die Größe des Kyre-
näiſchen Königsgeſchlechts durch den Ruhm der Argonauten, von denen es
abſtammt, zu verherrlichen. In der modernen Lyrik werden ſolche Epiſoden-

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 86
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[1335/0199] ablenkenden Aufgabe zum Trotz, alſo gerade mit doppeltem Nachdrucke ſich geltend machen. — Der allgemeine Satz führt ſogleich zu der Frage nach der Compoſition und hier bewährt ſich, was von der Schwäche des Unterſchieds der Style geſagt iſt, daran, daß gerade der direct ideale, claſſiſche Styl auf ſeiner Höhe am vollſtändigſten ausgebildet hat, was man die lyriſche Unordnung nennt. Sie hat ſich vorzüglich in der Ode feſtge- ſetzt; Pindar componirt wahrhaft labyrinthiſch, knüpft Fäden an, läßt ſie wieder fallen und flicht ſie erſt am Ende ſo zuſammen, daß die Bedeutung klar wird (vergl. u. A. Otfr. Müller Geſch. d. griech. Lit. B. 1, S. 409 ff.). Dieſe vielbeſprochene Art der Anlage, das Abſpringen zu weit von einander entlegenen Gegenſtänden, das ſcheinbar geſetzloſe, der bloßen Einbildungs- kraft angehörige Spiel der Verknüpfung der Vorſtellungen erklärt ſich leicht daraus, daß die wirkliche Ordnung eine ſubjective iſt und die objectiven Elemente aus dem Einen Geſichtspuncte der Stimmung verbindet. Dieſe ſchwebt über der Welt, wie ein Magnet, an den auf Koſten des ſächlichen Zuſammenhangs Jedwedes anſchießt, was eine weſentliche Seite der Be- ziehung zu ihm hat, oder ſie kann mit dem ſchwebenden Vogel im Anfange von Göthe’s Harzreiſe im Winter verglichen werden: „Dem Geier gleich, der auf ſchweren Morgenwolken mit ſanftem Fittig ruhend nach Beute ſchaut, ſchwebe mein Lied!“ Man wird ſich hierüber klare Rechenſchaft geben, wenn man an ſich ſelbſt beobachtet, wie im Zuſtande entſchiedener Gefühls- ſtimmung die Phantaſie umherſchweift, als handle ſie, vom Denken nicht überwacht, ganz willkürlich für ſich; man wird ſich zuerſt wundern, wenn man ſich darauf beſinnt, bei wie fremdartigen Gegenſtänden ſie herumgeirrt iſt, hernach aber ſich überzeugen, daß ſie im Dienſte des Einen Grundge- fühls gehandelt hat. Der Wahnſinn als fixe Idee iſt ein krankhafter Ver- luſt des ganzen Geiſtes in dieſen Zuſtand, dem die Kunſt als einem Zu- ſtand unter andern freie äſthetiſche Form gibt: er ſieht alle Dinge außerhalb der richtigen Ordnung nur im Zuſammenhang mit Einer habituell gewor- denen Vorſtellung, Empfindung; Blitz, Donner, Sturm und Regen, Edgar’s Erſcheinung, Gloſter’s feinen Hut und alles Andere bezieht Lear nur auf den Undank ſeiner Töchter. Die Phantaſie kann auf dieſer ſcheinbaren Irrfahrt bei dieſem oder jenem Bild auch länger verweilen, als der ſprung- weis bewegte Charakter der Dichtung es zuzugeben ſcheint, und man kann dieß Epiſode nennen. Dahin gehören z. B. die mythiſchen Erzählungen Pindar’s, wie die des Argonautenzugs im Pythiſchen Gedicht auf den Ky- renäiſchen König Arkeſilas, allein das herrſchende Gefühl ruft die Phantaſie von dieſem Verweilen doch ungleich raſcher zurück, als die epiſche Anſchauung; ſo im gegebenen Beiſpiele, wo jenes Bild nur dient, die Größe des Kyre- näiſchen Königsgeſchlechts durch den Ruhm der Argonauten, von denen es abſtammt, zu verherrlichen. In der modernen Lyrik werden ſolche Epiſoden- Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 86

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/199>, abgerufen am 23.11.2024.