an), aus diesem singt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick, die Freude heraus. Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Ge- biete die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach, naiv hervorfließe, kann man an Göthe's Liedern wie an einer reinen Norm ersehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886 über die Situationsfarbe des Lyrischen gesagt wurde: man muß durchsehen, wie in einer bestimmten Lage dieser Stimmungszustand entstanden ist, in bestimmtem Augenblicke die Welt so und nicht anders im Dichtergemüthe gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders Könnens, denn der Dichter ist hier erzeugender Geist und reines Naturkind, Stimmungskind, ganz in Einem. -- Sehen wir nun nach dem Stoff- Unterschiede, so verhält sich hier das Lied nicht ausschließend wie das Hym- nische. Es wird natürlich mit dem breiteren Theile seiner Basis sich auf dem Boden des heiteren Lebensgenusses festsetzen, Liebe, Wein, Tanz, gesellige Lust, Naturgenuß wird sein liebstes Thema sein, denn das menschlich Ver- traute, Kampflose schlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtsinn in Göthe's Vanitas Vanitatum Vanitas stellt eigentlich diese reine, freie, widerstandslose Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht sich dem Liede nicht, denn es kann volle Immanenz im Gemüthe des Sub- jectes werden. Dieß gilt denn zuerst von dem absolut Erhabenen: es tritt als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht ist nun freilich auch die Stimmung der Hymne, allein wir müssen hier das Wort in dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion voraussetzt, welche die Idee der Immanenz im Begriffe der göttlichen Liebe besitzt und die Bewegung der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwischen dem absoluten Gegen- stand als einem außerweltlich persönlichen und dem Subjecte bleibt der Vorstellung nach stehen, wird aber der That nach durch die Innigkeit der Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in diesem harmonischen Flusse ist jene Erschütterung des Hymnischen und Dithyram- bischen, wobei immer eine herbere Entgegensetzung zu Grunde liegt, ver- schwunden und kann so der schlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten. Das Lied schließt denn natürlich auch menschlich erhabenen Inhalt nicht aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleisch und Blut des subjectiven
an), aus dieſem ſingt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick, die Freude heraus. Es bedarf keines Beweiſes mehr, daß in dieſem Ge- biete die lyriſche Poeſie allein ganz ſie ſelbſt iſt und daß auf ihm der Dichter ſeinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyriſchen kann wirklich nicht die Frage ſein, wer ſpezifiſch mehr Dichter ſei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen wollen, daß es friſchweg, leicht, im Entſtehen ſchon wie geſungen, einfach, naiv hervorfließe, kann man an Göthe’s Liedern wie an einer reinen Norm erſehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886 über die Situationsfarbe des Lyriſchen geſagt wurde: man muß durchſehen, wie in einer beſtimmten Lage dieſer Stimmungszuſtand entſtanden iſt, in beſtimmtem Augenblicke die Welt ſo und nicht anders im Dichtergemüthe gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders Könnens, denn der Dichter iſt hier erzeugender Geiſt und reines Naturkind, Stimmungskind, ganz in Einem. — Sehen wir nun nach dem Stoff- Unterſchiede, ſo verhält ſich hier das Lied nicht ausſchließend wie das Hym- niſche. Es wird natürlich mit dem breiteren Theile ſeiner Baſis ſich auf dem Boden des heiteren Lebensgenuſſes feſtſetzen, Liebe, Wein, Tanz, geſellige Luſt, Naturgenuß wird ſein liebſtes Thema ſein, denn das menſchlich Ver- traute, Kampfloſe ſchlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtſinn in Göthe’s Vanitas Vanitatum Vanitas ſtellt eigentlich dieſe reine, freie, widerſtandsloſe Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht ſich dem Liede nicht, denn es kann volle Immanenz im Gemüthe des Sub- jectes werden. Dieß gilt denn zuerſt von dem abſolut Erhabenen: es tritt als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht iſt nun freilich auch die Stimmung der Hymne, allein wir müſſen hier das Wort in dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion vorausſetzt, welche die Idee der Immanenz im Begriffe der göttlichen Liebe beſitzt und die Bewegung der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwiſchen dem abſoluten Gegen- ſtand als einem außerweltlich perſönlichen und dem Subjecte bleibt der Vorſtellung nach ſtehen, wird aber der That nach durch die Innigkeit der Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in dieſem harmoniſchen Fluſſe iſt jene Erſchütterung des Hymniſchen und Dithyram- biſchen, wobei immer eine herbere Entgegenſetzung zu Grunde liegt, ver- ſchwunden und kann ſo der ſchlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten. Das Lied ſchließt denn natürlich auch menſchlich erhabenen Inhalt nicht aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleiſch und Blut des ſubjectiven
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[1352/0216]
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die Freude heraus. Es bedarf keines Beweiſes mehr, daß in dieſem Ge-
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ſeinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied
und im Lyriſchen kann wirklich nicht die Frage ſein, wer ſpezifiſch mehr
Dichter ſei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen
wollen, daß es friſchweg, leicht, im Entſtehen ſchon wie geſungen, einfach,
naiv hervorfließe, kann man an Göthe’s Liedern wie an einer reinen Norm
erſehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886
über die Situationsfarbe des Lyriſchen geſagt wurde: man muß durchſehen,
wie in einer beſtimmten Lage dieſer Stimmungszuſtand entſtanden iſt, in
beſtimmtem Augenblicke die Welt ſo und nicht anders im Dichtergemüthe
gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter
der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders
Könnens, denn der Dichter iſt hier erzeugender Geiſt und reines Naturkind,
Stimmungskind, ganz in Einem. — Sehen wir nun nach dem Stoff-
Unterſchiede, ſo verhält ſich hier das Lied nicht ausſchließend wie das Hym-
niſche. Es wird natürlich mit dem breiteren Theile ſeiner Baſis ſich auf
dem Boden des heiteren Lebensgenuſſes feſtſetzen, Liebe, Wein, Tanz, geſellige
Luſt, Naturgenuß wird ſein liebſtes Thema ſein, denn das menſchlich Ver-
traute, Kampfloſe ſchlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz
Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtſinn in Göthe’s
Vanitas Vanitatum Vanitas ſtellt eigentlich dieſe reine, freie, widerſtandsloſe
Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht
ſich dem Liede nicht, denn es kann volle Immanenz im Gemüthe des Sub-
jectes werden. Dieß gilt denn zuerſt von dem abſolut Erhabenen: es tritt
als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht iſt nun freilich
auch die Stimmung der Hymne, allein wir müſſen hier das Wort in
dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion vorausſetzt, welche die Idee
der Immanenz im Begriffe der göttlichen Liebe beſitzt und die Bewegung
der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen
Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwiſchen dem abſoluten Gegen-
ſtand als einem außerweltlich perſönlichen und dem Subjecte bleibt der
Vorſtellung nach ſtehen, wird aber der That nach durch die Innigkeit der
Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in dieſem
harmoniſchen Fluſſe iſt jene Erſchütterung des Hymniſchen und Dithyram-
biſchen, wobei immer eine herbere Entgegenſetzung zu Grunde liegt, ver-
ſchwunden und kann ſo der ſchlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten.
Das Lied ſchließt denn natürlich auch menſchlich erhabenen Inhalt nicht
aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und
Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleiſch und Blut des ſubjectiven
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/216>, abgerufen am 23.11.2024.
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