Thränen", in den beiden: "Wanderers Nachtlied" und "ein Gleiches (Ueber allen Gipfeln ist Ruh' u. s. w.)", wie in jenen Liedern, die wir als Grund- typen lyrischen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, solches dämmernde Beschleichen wie in Jägers Abendlied oder "An den Mond" haben ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweisen in dem eigenthümlich beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die neuere Kunstpoesie Byron's, Moore's, Shelley's, Burn's, Campbell's und der Dichter der sog. Seeschule übergegangen ist. Man kann namentlich hier die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er ist der brittischen und schottischen Poesie besonders eigen. -- Wir haben uns hier nicht aus- drücklich über das Mittelalter ausgesprochen: nicht als hätten wir vergessen, daß seine Phantasie vorherrschend die empfindende war; aber die ganze Bildungsform war doch noch so weit episch, daß dieser Zweig überwog und das Lyrische, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, sich in ihn warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe des neu aufgegangenen Gemüthslebens sich erschloß; die Minnepoesie, aus dem älteren Volkslied hervorgegangen, ist eine Erscheinung voll Lieblichkeit, allein sie wird bald monoton durch die Wiederkehr desselben Inhalts, con- ventionell in dem methodisirten Cultus der Frauen und des Frühlings und die kunstreiche Form leitet, wie schon früher bemerkt wurde, alsgemach die Innigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt man, daß das Bewußtsein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig von vielseitigen Beziehungen des Lebens geschüttelt war, und ein Walter von der Vogelweide steht an Reichthum der Persönlichkeit und ihrer Interessen für die reale Welt fast einzig da; das Volk, trotzdem, daß sein inneres Leben noch einfacher sein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieser, den der Geist der Kaste abschloß, und was seinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte, ersetzte die Frische und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher die Minnepoesie aus der Volkspoesie herkommt, so muß sie, nachdem sie sich in Künstlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geist des Volkes ist inzwischen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten, Anfang des sechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volks- lieds ein, auf dessen bestimmtere Auffassung wir längst hingeleitet sind.
2. Der Unterschied der Volks- und Kunstpoesie ist schon in §. 519 aufgestellt. Hier, im lyrischen Gebiete, hat er seine eigentliche Stelle; denn das Epische im ursprünglichen Volksgesange verewigt sich, wie wir schon ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyrischen heraus und in die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunstpoesie stehenden Bildung übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einst ein Theil des Ganzen
Thränen“, in den beiden: „Wanderers Nachtlied“ und „ein Gleiches (Ueber allen Gipfeln iſt Ruh’ u. ſ. w.)“, wie in jenen Liedern, die wir als Grund- typen lyriſchen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, ſolches dämmernde Beſchleichen wie in Jägers Abendlied oder „An den Mond“ haben ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweiſen in dem eigenthümlich beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die neuere Kunſtpoeſie Byron’s, Moore’s, Shelley’s, Burn’s, Campbell’s und der Dichter der ſog. Seeſchule übergegangen iſt. Man kann namentlich hier die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er iſt der brittiſchen und ſchottiſchen Poeſie beſonders eigen. — Wir haben uns hier nicht aus- drücklich über das Mittelalter ausgeſprochen: nicht als hätten wir vergeſſen, daß ſeine Phantaſie vorherrſchend die empfindende war; aber die ganze Bildungsform war doch noch ſo weit epiſch, daß dieſer Zweig überwog und das Lyriſche, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, ſich in ihn warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe des neu aufgegangenen Gemüthslebens ſich erſchloß; die Minnepoeſie, aus dem älteren Volkslied hervorgegangen, iſt eine Erſcheinung voll Lieblichkeit, allein ſie wird bald monoton durch die Wiederkehr deſſelben Inhalts, con- ventionell in dem methodiſirten Cultus der Frauen und des Frühlings und die kunſtreiche Form leitet, wie ſchon früher bemerkt wurde, alsgemach die Innigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt man, daß das Bewußtſein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig von vielſeitigen Beziehungen des Lebens geſchüttelt war, und ein Walter von der Vogelweide ſteht an Reichthum der Perſönlichkeit und ihrer Intereſſen für die reale Welt faſt einzig da; das Volk, trotzdem, daß ſein inneres Leben noch einfacher ſein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieſer, den der Geiſt der Kaſte abſchloß, und was ſeinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte, erſetzte die Friſche und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher die Minnepoeſie aus der Volkspoeſie herkommt, ſo muß ſie, nachdem ſie ſich in Künſtlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geiſt des Volkes iſt inzwiſchen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten, Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volks- lieds ein, auf deſſen beſtimmtere Auffaſſung wir längſt hingeleitet ſind.
2. Der Unterſchied der Volks- und Kunſtpoeſie iſt ſchon in §. 519 aufgeſtellt. Hier, im lyriſchen Gebiete, hat er ſeine eigentliche Stelle; denn das Epiſche im urſprünglichen Volksgeſange verewigt ſich, wie wir ſchon ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyriſchen heraus und in die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunſtpoeſie ſtehenden Bildung übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einſt ein Theil des Ganzen
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Thränen“, in den beiden: „Wanderers Nachtlied“ und „ein Gleiches (Ueber
allen Gipfeln iſt Ruh’ u. ſ. w.)“, wie in jenen Liedern, die wir als Grund-
typen lyriſchen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, ſolches
dämmernde Beſchleichen wie in Jägers Abendlied oder „An den Mond“ haben
ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweiſen in dem eigenthümlich
beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die
neuere Kunſtpoeſie Byron’s, Moore’s, Shelley’s, Burn’s, Campbell’s und
der Dichter der ſog. Seeſchule übergegangen iſt. Man kann namentlich hier
die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er iſt der brittiſchen
und ſchottiſchen Poeſie beſonders eigen. — Wir haben uns hier nicht aus-
drücklich über das Mittelalter ausgeſprochen: nicht als hätten wir vergeſſen,
daß ſeine Phantaſie vorherrſchend die empfindende war; aber die ganze
Bildungsform war doch noch ſo weit epiſch, daß dieſer Zweig überwog
und das Lyriſche, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, ſich in ihn
warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe
des neu aufgegangenen Gemüthslebens ſich erſchloß; die Minnepoeſie, aus
dem älteren Volkslied hervorgegangen, iſt eine Erſcheinung voll Lieblichkeit,
allein ſie wird bald monoton durch die Wiederkehr deſſelben Inhalts, con-
ventionell in dem methodiſirten Cultus der Frauen und des Frühlings und
die kunſtreiche Form leitet, wie ſchon früher bemerkt wurde, alsgemach die
Innigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt
man, daß das Bewußtſein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig
von vielſeitigen Beziehungen des Lebens geſchüttelt war, und ein Walter
von der Vogelweide ſteht an Reichthum der Perſönlichkeit und ihrer Intereſſen
für die reale Welt faſt einzig da; das Volk, trotzdem, daß ſein inneres
Leben noch einfacher ſein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch
in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieſer, den der Geiſt der
Kaſte abſchloß, und was ſeinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte,
erſetzte die Friſche und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher
die Minnepoeſie aus der Volkspoeſie herkommt, ſo muß ſie, nachdem ſie
ſich in Künſtlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geiſt
des Volkes iſt inzwiſchen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich
erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten,
Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volks-
lieds ein, auf deſſen beſtimmtere Auffaſſung wir längſt hingeleitet ſind.
2. Der Unterſchied der Volks- und Kunſtpoeſie iſt ſchon in §. 519
aufgeſtellt. Hier, im lyriſchen Gebiete, hat er ſeine eigentliche Stelle; denn
das Epiſche im urſprünglichen Volksgeſange verewigt ſich, wie wir ſchon
ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyriſchen heraus und in
die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunſtpoeſie ſtehenden Bildung
übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einſt ein Theil des Ganzen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/220>, abgerufen am 27.11.2024.
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