3. Die Ballade und Romanze sind Abkömmlinge der alten Helden- lieder, die zuerst einzeln gesungen, dann zum Epos fortgebildet und zu- sammengefügt wurden; sie leiten also zu jener mehrfach erwähnten elementa- rischen Form zurück, wo das Lyrische und Epische noch im Keime vereinigt lagen. Allein nachdem das Letztere sich zu einer eigenen Gattung ausge- sondert hat, ist der Theil des gemeinschaftlichen Keimes, der diesem Zuge nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach episch, lyrischen Charakter angenommen. Episch ist vor Allem das Moment der Vergangenheit, wodurch diese Form von der vorhergehenden Gruppe sich unterscheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegen- stand schwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, sondern dieser legt sich mit seiner Empfindung ganz in den Gegenstand, als ob der- selbe, zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und Wurf wird subjectiv, bewegt, der Gang übersteigt rasch die retardirenden Elemente und eilt zum Schlusse, der Rhythmus baut sich musikalisch in lyrischen Strophen, das epische Lied entsteht mit der Melodie oder nach einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgesange oder muß doch, wenn es ächter Kunstpoesie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem alten Heldenliede sieht man ferner die Neigung an, sich als Glied in ein größeres Ganzes zu fügen, es setzt die Kenntniß einer umfassenden Sage voraus; Ballade und Romanze dagegen stellt einen Stoff für sich, ähnlich wie die Novelle im Unterschied von dem Roman eine Situation, abgeschlossen hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldensage, sondern vereinzelte Ereignisse und Handlungen, Mordgeschichten, Schicksale der Liebe, Kriegsauftritte u. s. w., die aber allerdings den ächten Inhalt vorzüglich dann liefern, wenn sie vorher von der Sage poetisch zubereitet sind, wohl auch Elemente des Mährchenhaften, Geisterhaften aufgenommen haben, worin tiefer und rein menschlicher Sinn eingehüllt ist. Die nähere Ge- schichte ist noch zu stoffartig und prosaisch versetzt und führt mehr zur poetischen Erzählung. Alle diese Merkmale weisen der epischen Lyrik im Unterschiede vom Epos den ahnungsvoll charakteristischen, nicht entwickeln- den Styl zu; dennoch ist es natürlich, daß auch innerhalb dieses Bodens der Gegensatz eines relativ helleren, subjectiv klaren, mehr gegenständlich ausführenden und in diesem Sinne plastisch idealen Styls gegen einen im engeren Sinne malerisch helldunkeln sich von Neuem erzeugt. Die classische Dichtung bietet nichts für diese Stelle, im Alterthum blieb nach der Aus- scheidung des Epos keine epische Form von lyrischem Charakter zurück. Dagegen tritt der Unterschied der Stylprinzipien in der neueren Poesie zu- nächst als ein nationaler auf und lehnt sich so an die Namen Romanze und Ballade. Ballade ist zwar ein italienisches Wort und bezeichnet ein
3. Die Ballade und Romanze ſind Abkömmlinge der alten Helden- lieder, die zuerſt einzeln geſungen, dann zum Epos fortgebildet und zu- ſammengefügt wurden; ſie leiten alſo zu jener mehrfach erwähnten elementa- riſchen Form zurück, wo das Lyriſche und Epiſche noch im Keime vereinigt lagen. Allein nachdem das Letztere ſich zu einer eigenen Gattung ausge- ſondert hat, iſt der Theil des gemeinſchaftlichen Keimes, der dieſem Zuge nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach epiſch, lyriſchen Charakter angenommen. Epiſch iſt vor Allem das Moment der Vergangenheit, wodurch dieſe Form von der vorhergehenden Gruppe ſich unterſcheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegen- ſtand ſchwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, ſondern dieſer legt ſich mit ſeiner Empfindung ganz in den Gegenſtand, als ob der- ſelbe, zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und Wurf wird ſubjectiv, bewegt, der Gang überſteigt raſch die retardirenden Elemente und eilt zum Schluſſe, der Rhythmus baut ſich muſikaliſch in lyriſchen Strophen, das epiſche Lied entſteht mit der Melodie oder nach einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgeſange oder muß doch, wenn es ächter Kunſtpoeſie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem alten Heldenliede ſieht man ferner die Neigung an, ſich als Glied in ein größeres Ganzes zu fügen, es ſetzt die Kenntniß einer umfaſſenden Sage voraus; Ballade und Romanze dagegen ſtellt einen Stoff für ſich, ähnlich wie die Novelle im Unterſchied von dem Roman eine Situation, abgeſchloſſen hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldenſage, ſondern vereinzelte Ereigniſſe und Handlungen, Mordgeſchichten, Schickſale der Liebe, Kriegsauftritte u. ſ. w., die aber allerdings den ächten Inhalt vorzüglich dann liefern, wenn ſie vorher von der Sage poetiſch zubereitet ſind, wohl auch Elemente des Mährchenhaften, Geiſterhaften aufgenommen haben, worin tiefer und rein menſchlicher Sinn eingehüllt iſt. Die nähere Ge- ſchichte iſt noch zu ſtoffartig und proſaiſch verſetzt und führt mehr zur poetiſchen Erzählung. Alle dieſe Merkmale weiſen der epiſchen Lyrik im Unterſchiede vom Epos den ahnungsvoll charakteriſtiſchen, nicht entwickeln- den Styl zu; dennoch iſt es natürlich, daß auch innerhalb dieſes Bodens der Gegenſatz eines relativ helleren, ſubjectiv klaren, mehr gegenſtändlich ausführenden und in dieſem Sinne plaſtiſch idealen Styls gegen einen im engeren Sinne maleriſch helldunkeln ſich von Neuem erzeugt. Die claſſiſche Dichtung bietet nichts für dieſe Stelle, im Alterthum blieb nach der Aus- ſcheidung des Epos keine epiſche Form von lyriſchem Charakter zurück. Dagegen tritt der Unterſchied der Stylprinzipien in der neueren Poeſie zu- nächſt als ein nationaler auf und lehnt ſich ſo an die Namen Romanze und Ballade. Ballade iſt zwar ein italieniſches Wort und bezeichnet ein
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3. Die Ballade und Romanze ſind Abkömmlinge der alten Helden-
lieder, die zuerſt einzeln geſungen, dann zum Epos fortgebildet und zu-
ſammengefügt wurden; ſie leiten alſo zu jener mehrfach erwähnten elementa-
riſchen Form zurück, wo das Lyriſche und Epiſche noch im Keime vereinigt
lagen. Allein nachdem das Letztere ſich zu einer eigenen Gattung ausge-
ſondert hat, iſt der Theil des gemeinſchaftlichen Keimes, der dieſem Zuge
nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach epiſch,
lyriſchen Charakter angenommen. Epiſch iſt vor Allem das Moment der
Vergangenheit, wodurch dieſe Form von der vorhergehenden Gruppe
ſich unterſcheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegen-
ſtand ſchwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, ſondern
dieſer legt ſich mit ſeiner Empfindung ganz in den Gegenſtand, als ob der-
ſelbe, zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig
wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und
Wurf wird ſubjectiv, bewegt, der Gang überſteigt raſch die retardirenden
Elemente und eilt zum Schluſſe, der Rhythmus baut ſich muſikaliſch in
lyriſchen Strophen, das epiſche Lied entſteht mit der Melodie oder nach
einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgeſange oder muß doch, wenn es
ächter Kunſtpoeſie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem
alten Heldenliede ſieht man ferner die Neigung an, ſich als Glied in ein
größeres Ganzes zu fügen, es ſetzt die Kenntniß einer umfaſſenden Sage
voraus; Ballade und Romanze dagegen ſtellt einen Stoff für ſich, ähnlich
wie die Novelle im Unterſchied von dem Roman eine Situation, abgeſchloſſen
hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldenſage, ſondern
vereinzelte Ereigniſſe und Handlungen, Mordgeſchichten, Schickſale der Liebe,
Kriegsauftritte u. ſ. w., die aber allerdings den ächten Inhalt vorzüglich
dann liefern, wenn ſie vorher von der Sage poetiſch zubereitet ſind, wohl
auch Elemente des Mährchenhaften, Geiſterhaften aufgenommen haben,
worin tiefer und rein menſchlicher Sinn eingehüllt iſt. Die nähere Ge-
ſchichte iſt noch zu ſtoffartig und proſaiſch verſetzt und führt mehr zur
poetiſchen Erzählung. Alle dieſe Merkmale weiſen der epiſchen Lyrik im
Unterſchiede vom Epos den ahnungsvoll charakteriſtiſchen, nicht entwickeln-
den Styl zu; dennoch iſt es natürlich, daß auch innerhalb dieſes Bodens
der Gegenſatz eines relativ helleren, ſubjectiv klaren, mehr gegenſtändlich
ausführenden und in dieſem Sinne plaſtiſch idealen Styls gegen einen im
engeren Sinne maleriſch helldunkeln ſich von Neuem erzeugt. Die claſſiſche
Dichtung bietet nichts für dieſe Stelle, im Alterthum blieb nach der Aus-
ſcheidung des Epos keine epiſche Form von lyriſchem Charakter zurück.
Dagegen tritt der Unterſchied der Stylprinzipien in der neueren Poeſie zu-
nächſt als ein nationaler auf und lehnt ſich ſo an die Namen Romanze
und Ballade. Ballade iſt zwar ein italieniſches Wort und bezeichnet ein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/225>, abgerufen am 27.11.2024.
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