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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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eine oder andere dieser Merkmale oder die sämmtlichen zutreffen sehen.
Noch bestimmter wird man dieß Verweilen im Subjectiven, das nur einen
Ansatz zum Erzählen nimmt und den Stoff wieder in lyrischen Klang zurück-
zieht, in den Gedichten Heine's finden, die er Romanzen nennt; Balladen,
wie die "Grenadiere", "Belsatzar", durcherzählende Romanzen, wie "Don
Raniro", mehreres Lieder- und Sonett-artige ist leicht auszuscheiden; wir
bezeichnen als Beispiele für den Charakter, von dem hier die Rede ist,
I, II, III, IV, V, VII, VIII, XI, XII, XIII, XIV, XV. Wir haben die
Ballade reiner lyrisch genannt, als die Romanze; ziehen wir nun zu dieser
die in Rede stehende Form, welche zum Erzählen nicht ernstlich fortgeht,
so scheinen wir in Widerspruch zu gerathen, denn dieß ist ja vielmehr ein
Stehenbleiben im Lyrischen. Allein beide Male ist Lyrisch in anderem Sinne
genommen: im Balladenstyle bedeutet es den Act der subjectiven Empfindung,
der sich an seinem geraden Gegentheile, der vollen Objectivität, so stark er-
weist, daß er sie ganz in lauter Ton, Stimmung umsetzt, das anderemal
die Subjectivität, die den allgemeinen Begriffscharakter des Lyrischen so
einhält, daß sie bis zu voller Objectivität gar nicht fortschreitet, nur halbe
Anstalten zum Erzählen macht.

Hiemit haben wir Linien zu einer Grenzbestimmung zwischen Ballade
und Romanze zu geben versucht. Daß dieselben in der Anwendung durchaus
Lücken haben müssen, folgt nothwendig aus der innern Natur des Lyrischen;
wo es sich um so zarte Potenzen handelt, für die wir nur den Namen
Behandlungston haben, kann am allerwenigsten bei Schuh und Zoll aus-
gemessen werden. Der Sprachgebrauch ist daher locker und schwankend.
Göthe nennt alle seine erzählenden Lieder Balladen und mit Recht. Ange-
sichts der Vollständigkeit der Versenkung, der Umtauschung des eigenen Ich
gegen die Personen und das Ereigniß, des bewegungsreichen Ganges, der
ganzen wallenden Natur dieser Lieder kann man zu dem Schlusse kommen,
Göthe sei mehr Dramatiker, als Schiller; allein seine Dramen leiden bei
aller übrigen Vollendung an einem Mangel gegenüber dem Spezifischen der
Dichtart, sie sind zu seelisch und haben zu wenig Handlung; er ist dagegen
im Epischen so Homerisch klar und so ganz, wie es die Dichtart will, rein
zeichnend und entwickelnd, daß man den Meister des lyrischen Helldunkels
der Empfindung nicht in ihm erwarten sollte. Wir überlassen diesen Knoten
dem Leser zur Auflösung; sie wird sich daran knüpfen müssen, daß Göthe
doch auch als Epiker keinen straff männlichen, sondern lauter rein mensch-
liche, weiblich seelische Stoffe behandelt hat. Schiller nennt nur seinen
Kampf mit dem Drachen Romanze, alles Andere Balladen; sonderbar:
thut er es wegen der lichten Deutlichkeit und beredten Entwicklung im
Style, so hätte er alle seine episch lyrischen Gedichte Romanzen nennen
können außer dem Taucher, denn dieser hat trotz den beredten Schilderungen

eine oder andere dieſer Merkmale oder die ſämmtlichen zutreffen ſehen.
Noch beſtimmter wird man dieß Verweilen im Subjectiven, das nur einen
Anſatz zum Erzählen nimmt und den Stoff wieder in lyriſchen Klang zurück-
zieht, in den Gedichten Heine’s finden, die er Romanzen nennt; Balladen,
wie die „Grenadiere“, „Belſatzar“, durcherzählende Romanzen, wie „Don
Raniro“, mehreres Lieder- und Sonett-artige iſt leicht auszuſcheiden; wir
bezeichnen als Beiſpiele für den Charakter, von dem hier die Rede iſt,
I, II, III, IV, V, VII, VIII, XI, XII, XIII, XIV, XV. Wir haben die
Ballade reiner lyriſch genannt, als die Romanze; ziehen wir nun zu dieſer
die in Rede ſtehende Form, welche zum Erzählen nicht ernſtlich fortgeht,
ſo ſcheinen wir in Widerſpruch zu gerathen, denn dieß iſt ja vielmehr ein
Stehenbleiben im Lyriſchen. Allein beide Male iſt Lyriſch in anderem Sinne
genommen: im Balladenſtyle bedeutet es den Act der ſubjectiven Empfindung,
der ſich an ſeinem geraden Gegentheile, der vollen Objectivität, ſo ſtark er-
weist, daß er ſie ganz in lauter Ton, Stimmung umſetzt, das anderemal
die Subjectivität, die den allgemeinen Begriffscharakter des Lyriſchen ſo
einhält, daß ſie bis zu voller Objectivität gar nicht fortſchreitet, nur halbe
Anſtalten zum Erzählen macht.

Hiemit haben wir Linien zu einer Grenzbeſtimmung zwiſchen Ballade
und Romanze zu geben verſucht. Daß dieſelben in der Anwendung durchaus
Lücken haben müſſen, folgt nothwendig aus der innern Natur des Lyriſchen;
wo es ſich um ſo zarte Potenzen handelt, für die wir nur den Namen
Behandlungston haben, kann am allerwenigſten bei Schuh und Zoll aus-
gemeſſen werden. Der Sprachgebrauch iſt daher locker und ſchwankend.
Göthe nennt alle ſeine erzählenden Lieder Balladen und mit Recht. Ange-
ſichts der Vollſtändigkeit der Verſenkung, der Umtauſchung des eigenen Ich
gegen die Perſonen und das Ereigniß, des bewegungsreichen Ganges, der
ganzen wallenden Natur dieſer Lieder kann man zu dem Schluſſe kommen,
Göthe ſei mehr Dramatiker, als Schiller; allein ſeine Dramen leiden bei
aller übrigen Vollendung an einem Mangel gegenüber dem Spezifiſchen der
Dichtart, ſie ſind zu ſeeliſch und haben zu wenig Handlung; er iſt dagegen
im Epiſchen ſo Homeriſch klar und ſo ganz, wie es die Dichtart will, rein
zeichnend und entwickelnd, daß man den Meiſter des lyriſchen Helldunkels
der Empfindung nicht in ihm erwarten ſollte. Wir überlaſſen dieſen Knoten
dem Leſer zur Auflöſung; ſie wird ſich daran knüpfen müſſen, daß Göthe
doch auch als Epiker keinen ſtraff männlichen, ſondern lauter rein menſch-
liche, weiblich ſeeliſche Stoffe behandelt hat. Schiller nennt nur ſeinen
Kampf mit dem Drachen Romanze, alles Andere Balladen; ſonderbar:
thut er es wegen der lichten Deutlichkeit und beredten Entwicklung im
Style, ſo hätte er alle ſeine epiſch lyriſchen Gedichte Romanzen nennen
können außer dem Taucher, denn dieſer hat trotz den beredten Schilderungen

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[1364/0228] eine oder andere dieſer Merkmale oder die ſämmtlichen zutreffen ſehen. Noch beſtimmter wird man dieß Verweilen im Subjectiven, das nur einen Anſatz zum Erzählen nimmt und den Stoff wieder in lyriſchen Klang zurück- zieht, in den Gedichten Heine’s finden, die er Romanzen nennt; Balladen, wie die „Grenadiere“, „Belſatzar“, durcherzählende Romanzen, wie „Don Raniro“, mehreres Lieder- und Sonett-artige iſt leicht auszuſcheiden; wir bezeichnen als Beiſpiele für den Charakter, von dem hier die Rede iſt, I, II, III, IV, V, VII, VIII, XI, XII, XIII, XIV, XV. Wir haben die Ballade reiner lyriſch genannt, als die Romanze; ziehen wir nun zu dieſer die in Rede ſtehende Form, welche zum Erzählen nicht ernſtlich fortgeht, ſo ſcheinen wir in Widerſpruch zu gerathen, denn dieß iſt ja vielmehr ein Stehenbleiben im Lyriſchen. Allein beide Male iſt Lyriſch in anderem Sinne genommen: im Balladenſtyle bedeutet es den Act der ſubjectiven Empfindung, der ſich an ſeinem geraden Gegentheile, der vollen Objectivität, ſo ſtark er- weist, daß er ſie ganz in lauter Ton, Stimmung umſetzt, das anderemal die Subjectivität, die den allgemeinen Begriffscharakter des Lyriſchen ſo einhält, daß ſie bis zu voller Objectivität gar nicht fortſchreitet, nur halbe Anſtalten zum Erzählen macht. Hiemit haben wir Linien zu einer Grenzbeſtimmung zwiſchen Ballade und Romanze zu geben verſucht. Daß dieſelben in der Anwendung durchaus Lücken haben müſſen, folgt nothwendig aus der innern Natur des Lyriſchen; wo es ſich um ſo zarte Potenzen handelt, für die wir nur den Namen Behandlungston haben, kann am allerwenigſten bei Schuh und Zoll aus- gemeſſen werden. Der Sprachgebrauch iſt daher locker und ſchwankend. Göthe nennt alle ſeine erzählenden Lieder Balladen und mit Recht. Ange- ſichts der Vollſtändigkeit der Verſenkung, der Umtauſchung des eigenen Ich gegen die Perſonen und das Ereigniß, des bewegungsreichen Ganges, der ganzen wallenden Natur dieſer Lieder kann man zu dem Schluſſe kommen, Göthe ſei mehr Dramatiker, als Schiller; allein ſeine Dramen leiden bei aller übrigen Vollendung an einem Mangel gegenüber dem Spezifiſchen der Dichtart, ſie ſind zu ſeeliſch und haben zu wenig Handlung; er iſt dagegen im Epiſchen ſo Homeriſch klar und ſo ganz, wie es die Dichtart will, rein zeichnend und entwickelnd, daß man den Meiſter des lyriſchen Helldunkels der Empfindung nicht in ihm erwarten ſollte. Wir überlaſſen dieſen Knoten dem Leſer zur Auflöſung; ſie wird ſich daran knüpfen müſſen, daß Göthe doch auch als Epiker keinen ſtraff männlichen, ſondern lauter rein menſch- liche, weiblich ſeeliſche Stoffe behandelt hat. Schiller nennt nur ſeinen Kampf mit dem Drachen Romanze, alles Andere Balladen; ſonderbar: thut er es wegen der lichten Deutlichkeit und beredten Entwicklung im Style, ſo hätte er alle ſeine epiſch lyriſchen Gedichte Romanzen nennen können außer dem Taucher, denn dieſer hat trotz den beredten Schilderungen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/228>, abgerufen am 23.11.2024.