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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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großen Theil von Göthe's und Schiller's Xenien, auf Uhland's Sinnge-
dichte, zu denen er zwei Strophen nicht rechnet, die doch zu den schönsten
Epigrammen aller Zeit gehören: "Verspätetes Hochzeitlied" mit dem Schlusse:
des schönsten Glückes Schimmer erglänzt euch eben dann, wenn man euch
jetzt und immer ein Brautlied singen kann. -- Das Epigramm nun ist
der kleine benannte Punct in einer ganzen weiten Welt von Dichtungen,
die keinen Namen haben und die wir als Poesie des schönen Gedankens
bezeichnen; sie verhalten sich zum Epigramme wie das Ausgeführte zum
Zusammengezogenen. Es ist die schwer zu bestimmende Form, die auch
Hegel (a. a. O. S. 465) zuletzt, aber gewiß unrichtig als eine Art des
Liedes aufführt. Er weist auf Schiller hin, dessen Gedichte im Ganzen
und Großen eine eigentlich normale Erscheinung dessen sind, was wir schöne
Gedankenpoesie nennen; die neuere, namentlich deutsche Literatur, hat aber
überhaupt in weiter Ausdehnung dieß Feld angebaut, und Namen wie
G. Pfitzer, Geibel sind fast ausschließlich nur hier zu treffen. Der moderne
Geist hat seinen unendlich reichen, vielseitigen und verwickelten Inhalt in
das philosophische Bewußtsein erhoben, das sich auf unzähligen Wegen der
allgemeinen Bildung mitgetheilt hat; so ist dieses längst eine untrennbare
Form seines Wesens und wird durch seine Gegensätze und Kämpfe selbst
wieder zu einem Theile seines realen Lebens, seiner Erfahrungsmasse. Un-
möglich kann eine solche von Gedanken durchsäuerte Welt nach ihrem Umfang
und ihrer Tiefe in die liederartige Form der Unmittelbarkeit umgesetzt werden;
viel eher noch in den hymnischen Ton, von dem schon oben gesagt ist, daß
er sich mit der Poesie der Betrachtung berühre. Der Trotz des freien
Menschengeistes ist in Göthe's Prometheus, der Werth der Phantasie in:
"Meine Göttinn," die Kleinheit des Menschen gegen das Unendliche in
"Grenzen der Menschheit," Edelmuth und Wohlwollen als höchste Zierde
des Menschen in "das Göttliche" wirklich so ganz in hoch gehender reiner
Stimmung ausgesprochen, daß der ächt lyrische Hymnenton erklingt. Es
ist aber solche Umsetzung gedankenmäßigen Gehaltes nur dem höchsten Ta-
lente, seltenen Augenblicken und einem kleinen Theile der unabsehlichen Ge-
dankenwelt gegönnt. Es muß eine Poesie geben, welche den Gedanken
merklicher in Gedankenform ausspricht, aber doch noch auf so starker Grund-
lage pathetischer Stimmung, daß wir sie noch nicht zum Didaktischen zählen
dürfen. Sie wird aller hohen Anerkennung werth sein, wenn sie ihre
Stellung an der Grenze der Poesie, wenn sie ihren Glanz, ihren rhetorisch
declamatorischen Styl als einen Schmuck zugesteht, dessen sie um ihres innern
Mangels willen bedarf. Die Grenze zwischen dem, was dem ächt Poetischen
näher und was ihm ferner liegt, wird hier schwebend und ist nicht weiter
zu verfolgen. Schiller bleibt, wie gesagt, Vorbild und reinstes Muster.


großen Theil von Göthe’s und Schiller’s Xenien, auf Uhland’s Sinnge-
dichte, zu denen er zwei Strophen nicht rechnet, die doch zu den ſchönſten
Epigrammen aller Zeit gehören: „Verſpätetes Hochzeitlied“ mit dem Schluſſe:
des ſchönſten Glückes Schimmer erglänzt euch eben dann, wenn man euch
jetzt und immer ein Brautlied ſingen kann. — Das Epigramm nun iſt
der kleine benannte Punct in einer ganzen weiten Welt von Dichtungen,
die keinen Namen haben und die wir als Poeſie des ſchönen Gedankens
bezeichnen; ſie verhalten ſich zum Epigramme wie das Ausgeführte zum
Zuſammengezogenen. Es iſt die ſchwer zu beſtimmende Form, die auch
Hegel (a. a. O. S. 465) zuletzt, aber gewiß unrichtig als eine Art des
Liedes aufführt. Er weist auf Schiller hin, deſſen Gedichte im Ganzen
und Großen eine eigentlich normale Erſcheinung deſſen ſind, was wir ſchöne
Gedankenpoeſie nennen; die neuere, namentlich deutſche Literatur, hat aber
überhaupt in weiter Ausdehnung dieß Feld angebaut, und Namen wie
G. Pfitzer, Geibel ſind faſt ausſchließlich nur hier zu treffen. Der moderne
Geiſt hat ſeinen unendlich reichen, vielſeitigen und verwickelten Inhalt in
das philoſophiſche Bewußtſein erhoben, das ſich auf unzähligen Wegen der
allgemeinen Bildung mitgetheilt hat; ſo iſt dieſes längſt eine untrennbare
Form ſeines Weſens und wird durch ſeine Gegenſätze und Kämpfe ſelbſt
wieder zu einem Theile ſeines realen Lebens, ſeiner Erfahrungsmaſſe. Un-
möglich kann eine ſolche von Gedanken durchſäuerte Welt nach ihrem Umfang
und ihrer Tiefe in die liederartige Form der Unmittelbarkeit umgeſetzt werden;
viel eher noch in den hymniſchen Ton, von dem ſchon oben geſagt iſt, daß
er ſich mit der Poeſie der Betrachtung berühre. Der Trotz des freien
Menſchengeiſtes iſt in Göthe’s Prometheus, der Werth der Phantaſie in:
„Meine Göttinn,“ die Kleinheit des Menſchen gegen das Unendliche in
„Grenzen der Menſchheit,“ Edelmuth und Wohlwollen als höchſte Zierde
des Menſchen in „das Göttliche“ wirklich ſo ganz in hoch gehender reiner
Stimmung ausgeſprochen, daß der ächt lyriſche Hymnenton erklingt. Es
iſt aber ſolche Umſetzung gedankenmäßigen Gehaltes nur dem höchſten Ta-
lente, ſeltenen Augenblicken und einem kleinen Theile der unabſehlichen Ge-
dankenwelt gegönnt. Es muß eine Poeſie geben, welche den Gedanken
merklicher in Gedankenform ausſpricht, aber doch noch auf ſo ſtarker Grund-
lage pathetiſcher Stimmung, daß wir ſie noch nicht zum Didaktiſchen zählen
dürfen. Sie wird aller hohen Anerkennung werth ſein, wenn ſie ihre
Stellung an der Grenze der Poeſie, wenn ſie ihren Glanz, ihren rhetoriſch
declamatoriſchen Styl als einen Schmuck zugeſteht, deſſen ſie um ihres innern
Mangels willen bedarf. Die Grenze zwiſchen dem, was dem ächt Poetiſchen
näher und was ihm ferner liegt, wird hier ſchwebend und iſt nicht weiter
zu verfolgen. Schiller bleibt, wie geſagt, Vorbild und reinſtes Muſter.


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[1374/0238] großen Theil von Göthe’s und Schiller’s Xenien, auf Uhland’s Sinnge- dichte, zu denen er zwei Strophen nicht rechnet, die doch zu den ſchönſten Epigrammen aller Zeit gehören: „Verſpätetes Hochzeitlied“ mit dem Schluſſe: des ſchönſten Glückes Schimmer erglänzt euch eben dann, wenn man euch jetzt und immer ein Brautlied ſingen kann. — Das Epigramm nun iſt der kleine benannte Punct in einer ganzen weiten Welt von Dichtungen, die keinen Namen haben und die wir als Poeſie des ſchönen Gedankens bezeichnen; ſie verhalten ſich zum Epigramme wie das Ausgeführte zum Zuſammengezogenen. Es iſt die ſchwer zu beſtimmende Form, die auch Hegel (a. a. O. S. 465) zuletzt, aber gewiß unrichtig als eine Art des Liedes aufführt. Er weist auf Schiller hin, deſſen Gedichte im Ganzen und Großen eine eigentlich normale Erſcheinung deſſen ſind, was wir ſchöne Gedankenpoeſie nennen; die neuere, namentlich deutſche Literatur, hat aber überhaupt in weiter Ausdehnung dieß Feld angebaut, und Namen wie G. Pfitzer, Geibel ſind faſt ausſchließlich nur hier zu treffen. Der moderne Geiſt hat ſeinen unendlich reichen, vielſeitigen und verwickelten Inhalt in das philoſophiſche Bewußtſein erhoben, das ſich auf unzähligen Wegen der allgemeinen Bildung mitgetheilt hat; ſo iſt dieſes längſt eine untrennbare Form ſeines Weſens und wird durch ſeine Gegenſätze und Kämpfe ſelbſt wieder zu einem Theile ſeines realen Lebens, ſeiner Erfahrungsmaſſe. Un- möglich kann eine ſolche von Gedanken durchſäuerte Welt nach ihrem Umfang und ihrer Tiefe in die liederartige Form der Unmittelbarkeit umgeſetzt werden; viel eher noch in den hymniſchen Ton, von dem ſchon oben geſagt iſt, daß er ſich mit der Poeſie der Betrachtung berühre. Der Trotz des freien Menſchengeiſtes iſt in Göthe’s Prometheus, der Werth der Phantaſie in: „Meine Göttinn,“ die Kleinheit des Menſchen gegen das Unendliche in „Grenzen der Menſchheit,“ Edelmuth und Wohlwollen als höchſte Zierde des Menſchen in „das Göttliche“ wirklich ſo ganz in hoch gehender reiner Stimmung ausgeſprochen, daß der ächt lyriſche Hymnenton erklingt. Es iſt aber ſolche Umſetzung gedankenmäßigen Gehaltes nur dem höchſten Ta- lente, ſeltenen Augenblicken und einem kleinen Theile der unabſehlichen Ge- dankenwelt gegönnt. Es muß eine Poeſie geben, welche den Gedanken merklicher in Gedankenform ausſpricht, aber doch noch auf ſo ſtarker Grund- lage pathetiſcher Stimmung, daß wir ſie noch nicht zum Didaktiſchen zählen dürfen. Sie wird aller hohen Anerkennung werth ſein, wenn ſie ihre Stellung an der Grenze der Poeſie, wenn ſie ihren Glanz, ihren rhetoriſch declamatoriſchen Styl als einen Schmuck zugeſteht, deſſen ſie um ihres innern Mangels willen bedarf. Die Grenze zwiſchen dem, was dem ächt Poetiſchen näher und was ihm ferner liegt, wird hier ſchwebend und iſt nicht weiter zu verfolgen. Schiller bleibt, wie geſagt, Vorbild und reinſtes Muſter.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/238>, abgerufen am 27.11.2024.