dargestellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität seines Wahrnehmens geboten, wie es mit der Form die Verhältnisse des Lichts und der Farbe erfaßt: als Malerei. Hiemit ist Alles erschöpft, was im Raum ohne wirkliche Bewegung dargestellt werden kann; eine Verbindung der letzteren aber mit der räumlichen Darstellung ist, wie wir sahen, nur möglich durch Verwendung lebendigen Naturstoffs in der blos anhängenden Kunstform der Gymnastik (ebenso der Orchestik). Jede der einzelnen Beschränkungen in dieser Folge der Künste erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Voll- kommenes und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb mit Nothwendigkeit zur Musik. Wir haben gesehen, was diese gewinnt und verliert, indem sie die Welt der Innerlichkeit, das subjective Leben, in der Form der reinen Bewegung, d. h. so ausspricht, daß das geistige Zeit- leben im Zeitleben des Darstellungsmittels seinen Ausdruck findet, aber keine sich bewegende Gestalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu sehen ist. Erst jetzt vermochte die Kunst das innerste Geheimniß der Dinge, wie es vom Menschen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in seinen Busen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das still über den Gestalten der bildenden Kunst schwebt, ihnen und dem Zuschauer auf der Zunge liegt und sich nicht lösen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte sie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte sie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenstand anzugeben; sie war ganz Gefühl und stand still an der Schwelle des Bewußtseins. Das Ge- fühl haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geisteslebens erkannt, welche stetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die volle Empfindung des Mangels da, sondern positiv war es uns, als müsse er jeden Augenblick sich tilgen, das Object schwebte stets in die nächste Nähe heran, ja die ganze Kunstform verband sich mit der Sprache des Bewußtseins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen, freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Isolirung der Erscheinungs- seiten in der Kunst begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit ihrer Sphären und die selbständige Musik mußte daher für reiner erklärt werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt werden soll, welche auch diese neue, so reiche und tiefe Kunstform zurückge- lassen hat, muß sich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu der andern Kunst überführten, wesentlich unterscheiden. Dort bestand das Neue nicht darin, daß je die neue Kunstform, um dem Mangel der in der logischen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieser liegende Hauptform zurückgriff, sondern sie behielt zwar etwas von der vorhergehenden (wie die Plastik von der Baukunst das schwere Material, die massiv räum-
dargeſtellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität ſeines Wahrnehmens geboten, wie es mit der Form die Verhältniſſe des Lichts und der Farbe erfaßt: als Malerei. Hiemit iſt Alles erſchöpft, was im Raum ohne wirkliche Bewegung dargeſtellt werden kann; eine Verbindung der letzteren aber mit der räumlichen Darſtellung iſt, wie wir ſahen, nur möglich durch Verwendung lebendigen Naturſtoffs in der blos anhängenden Kunſtform der Gymnaſtik (ebenſo der Orcheſtik). Jede der einzelnen Beſchränkungen in dieſer Folge der Künſte erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Voll- kommenes und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb mit Nothwendigkeit zur Muſik. Wir haben geſehen, was dieſe gewinnt und verliert, indem ſie die Welt der Innerlichkeit, das ſubjective Leben, in der Form der reinen Bewegung, d. h. ſo ausſpricht, daß das geiſtige Zeit- leben im Zeitleben des Darſtellungsmittels ſeinen Ausdruck findet, aber keine ſich bewegende Geſtalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu ſehen iſt. Erſt jetzt vermochte die Kunſt das innerſte Geheimniß der Dinge, wie es vom Menſchen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in ſeinen Buſen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das ſtill über den Geſtalten der bildenden Kunſt ſchwebt, ihnen und dem Zuſchauer auf der Zunge liegt und ſich nicht löſen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte ſie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte ſie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenſtand anzugeben; ſie war ganz Gefühl und ſtand ſtill an der Schwelle des Bewußtſeins. Das Ge- fühl haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geiſteslebens erkannt, welche ſtetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die volle Empfindung des Mangels da, ſondern poſitiv war es uns, als müſſe er jeden Augenblick ſich tilgen, das Object ſchwebte ſtets in die nächſte Nähe heran, ja die ganze Kunſtform verband ſich mit der Sprache des Bewußtſeins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen, freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Iſolirung der Erſcheinungs- ſeiten in der Kunſt begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit ihrer Sphären und die ſelbſtändige Muſik mußte daher für reiner erklärt werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt werden ſoll, welche auch dieſe neue, ſo reiche und tiefe Kunſtform zurückge- laſſen hat, muß ſich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu der andern Kunſt überführten, weſentlich unterſcheiden. Dort beſtand das Neue nicht darin, daß je die neue Kunſtform, um dem Mangel der in der logiſchen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieſer liegende Hauptform zurückgriff, ſondern ſie behielt zwar etwas von der vorhergehenden (wie die Plaſtik von der Baukunſt das ſchwere Material, die maſſiv räum-
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[1160/0024]
dargeſtellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und
das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem
und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität ſeines Wahrnehmens
geboten, wie es mit der Form die Verhältniſſe des Lichts und der Farbe
erfaßt: als Malerei. Hiemit iſt Alles erſchöpft, was im Raum ohne
wirkliche Bewegung dargeſtellt werden kann; eine Verbindung der letzteren
aber mit der räumlichen Darſtellung iſt, wie wir ſahen, nur möglich durch
Verwendung lebendigen Naturſtoffs in der blos anhängenden Kunſtform
der Gymnaſtik (ebenſo der Orcheſtik). Jede der einzelnen Beſchränkungen
in dieſer Folge der Künſte erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Voll-
kommenes und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb
mit Nothwendigkeit zur Muſik. Wir haben geſehen, was dieſe gewinnt
und verliert, indem ſie die Welt der Innerlichkeit, das ſubjective Leben, in
der Form der reinen Bewegung, d. h. ſo ausſpricht, daß das geiſtige Zeit-
leben im Zeitleben des Darſtellungsmittels ſeinen Ausdruck findet, aber keine
ſich bewegende Geſtalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu ſehen
iſt. Erſt jetzt vermochte die Kunſt das innerſte Geheimniß der Dinge, wie
es vom Menſchen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in ſeinen
Buſen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das ſtill über den Geſtalten
der bildenden Kunſt ſchwebt, ihnen und dem Zuſchauer auf der Zunge liegt
und ſich nicht löſen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte
ſie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte
ſie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenſtand anzugeben; ſie war
ganz Gefühl und ſtand ſtill an der Schwelle des Bewußtſeins. Das Ge-
fühl haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geiſteslebens erkannt,
welche ſtetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die
volle Empfindung des Mangels da, ſondern poſitiv war es uns, als müſſe
er jeden Augenblick ſich tilgen, das Object ſchwebte ſtets in die nächſte
Nähe heran, ja die ganze Kunſtform verband ſich mit der Sprache des
Bewußtſeins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen,
freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Iſolirung der Erſcheinungs-
ſeiten in der Kunſt begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit
ihrer Sphären und die ſelbſtändige Muſik mußte daher für reiner erklärt
werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt
werden ſoll, welche auch dieſe neue, ſo reiche und tiefe Kunſtform zurückge-
laſſen hat, muß ſich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu
der andern Kunſt überführten, weſentlich unterſcheiden. Dort beſtand das
Neue nicht darin, daß je die neue Kunſtform, um dem Mangel der in der
logiſchen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieſer liegende
Hauptform zurückgriff, ſondern ſie behielt zwar etwas von der vorhergehenden
(wie die Plaſtik von der Baukunſt das ſchwere Material, die maſſiv räum-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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