diese, als ohne jene möglich. Dieß ist in seiner sinnvoll empirischen Weise naiv, aber durchaus treffend gesagt; naiv, weil der innere Zusammenhang zwischen Charakter und Handlung nicht philosophisch entwickelt ist. Es fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt sein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerst den Vordergrund einnimmt, dem absolut Erhabenen des Schicksals Platz macht, jedoch nicht so, als ob beide nur ein Nebeneinander wären und das Erste vom Zweiten äußerlich verdrängt würde, sondern so, daß das Erhabene des Subjects als Bruch- theil eines Ganzen erscheint, das in ihm selbst, aber nicht in ihm allein, sondern in der Vielheit von Individuen, zunächst in der ganzen Gruppe der in dieser Darstellung Vereinigten, in verschiedenen Verhältnissen der Wechsel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig ist und von dem es verschlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß ist der tragische Prozeß, wie er in §. 117 ff. auseinandergesetzt ist, und wir dürfen jetzt auf diesen Abschnitt mit der einfachen Bemerkung zurückverweisen, daß keine Gestalt der Kunst diesen Prozeß so rein und scharf zur Erscheinung bringt, als das Drama. Bei Aristoteles fehlt diese Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Idee des Schicksals fehlt, statt welcher er einfach empirisch: Handlung, Um- schwung, Glück und Unglück setzt, und ebenso, weil ihm der tiefere Begriff des Charakters fehlt, wie er als eine Form desselben allgemeinen Geistes, der als Schicksal über ihn kommt, sich selbst dieses Schicksal schmiedet, weil er in den Zusammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz ist dennoch höchst wichtig und fruchtbar, denn die Geschichte des Drama, na- mentlich des neueren, zeigt, wie häufig man der falschen Ansicht folgte, als ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung schon ein Drama sei. Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, statt von da zum absolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatische Conception geht nicht von den Charakteren, sondern von der Situation aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Cha- rakterbild aus den Bedingungen des Schicksals erwächst. So fordert z. B. die Handlung im Othello ein Weib, das so wehrlos, so unfähig ist, die Zunge zu brauchen, daß ihre Unschuld trotz allen Mißhandlungen zu spät an den Tag kommt. Aus dieser Bedingung ist wie aus einem zarten Keime dem Dichter ein himmlisches Bild verschleierter, stiller, süßer Seelen- schönheit, reiner Sanftmuth hervorgewachsen. So entwickelt das ächte Genie den Charakter vorneherein aus dem Schicksal und vereinigt organisch die Kräfte, welche für diese beiden Seiten erforderlich sind, in richtigem Ver- hältniß. Diese Vereinigung ist selten, die Talente und Richtungen sind so vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die vorwärts geht und zu einer großen Entscheidung drängt, componiren kann.
dieſe, als ohne jene möglich. Dieß iſt in ſeiner ſinnvoll empiriſchen Weiſe naiv, aber durchaus treffend geſagt; naiv, weil der innere Zuſammenhang zwiſchen Charakter und Handlung nicht philoſophiſch entwickelt iſt. Es fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt ſein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerſt den Vordergrund einnimmt, dem abſolut Erhabenen des Schickſals Platz macht, jedoch nicht ſo, als ob beide nur ein Nebeneinander wären und das Erſte vom Zweiten äußerlich verdrängt würde, ſondern ſo, daß das Erhabene des Subjects als Bruch- theil eines Ganzen erſcheint, das in ihm ſelbſt, aber nicht in ihm allein, ſondern in der Vielheit von Individuen, zunächſt in der ganzen Gruppe der in dieſer Darſtellung Vereinigten, in verſchiedenen Verhältniſſen der Wechſel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig iſt und von dem es verſchlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß iſt der tragiſche Prozeß, wie er in §. 117 ff. auseinandergeſetzt iſt, und wir dürfen jetzt auf dieſen Abſchnitt mit der einfachen Bemerkung zurückverweiſen, daß keine Geſtalt der Kunſt dieſen Prozeß ſo rein und ſcharf zur Erſcheinung bringt, als das Drama. Bei Ariſtoteles fehlt dieſe Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Idee des Schickſals fehlt, ſtatt welcher er einfach empiriſch: Handlung, Um- ſchwung, Glück und Unglück ſetzt, und ebenſo, weil ihm der tiefere Begriff des Charakters fehlt, wie er als eine Form deſſelben allgemeinen Geiſtes, der als Schickſal über ihn kommt, ſich ſelbſt dieſes Schickſal ſchmiedet, weil er in den Zuſammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz iſt dennoch höchſt wichtig und fruchtbar, denn die Geſchichte des Drama, na- mentlich des neueren, zeigt, wie häufig man der falſchen Anſicht folgte, als ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung ſchon ein Drama ſei. Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, ſtatt von da zum abſolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatiſche Conception geht nicht von den Charakteren, ſondern von der Situation aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Cha- rakterbild aus den Bedingungen des Schickſals erwächst. So fordert z. B. die Handlung im Othello ein Weib, das ſo wehrlos, ſo unfähig iſt, die Zunge zu brauchen, daß ihre Unſchuld trotz allen Mißhandlungen zu ſpät an den Tag kommt. Aus dieſer Bedingung iſt wie aus einem zarten Keime dem Dichter ein himmliſches Bild verſchleierter, ſtiller, ſüßer Seelen- ſchönheit, reiner Sanftmuth hervorgewachſen. So entwickelt das ächte Genie den Charakter vorneherein aus dem Schickſal und vereinigt organiſch die Kräfte, welche für dieſe beiden Seiten erforderlich ſind, in richtigem Ver- hältniß. Dieſe Vereinigung iſt ſelten, die Talente und Richtungen ſind ſo vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die vorwärts geht und zu einer großen Entſcheidung drängt, componiren kann.
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[1387/0251]
dieſe, als ohne jene möglich. Dieß iſt in ſeiner ſinnvoll empiriſchen Weiſe
naiv, aber durchaus treffend geſagt; naiv, weil der innere Zuſammenhang
zwiſchen Charakter und Handlung nicht philoſophiſch entwickelt iſt. Es
fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt
ſein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerſt den Vordergrund einnimmt,
dem abſolut Erhabenen des Schickſals Platz macht, jedoch nicht ſo, als ob
beide nur ein Nebeneinander wären und das Erſte vom Zweiten äußerlich
verdrängt würde, ſondern ſo, daß das Erhabene des Subjects als Bruch-
theil eines Ganzen erſcheint, das in ihm ſelbſt, aber nicht in ihm allein,
ſondern in der Vielheit von Individuen, zunächſt in der ganzen Gruppe
der in dieſer Darſtellung Vereinigten, in verſchiedenen Verhältniſſen der
Wechſel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig iſt und von dem
es verſchlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des
Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß iſt der tragiſche Prozeß, wie
er in §. 117 ff. auseinandergeſetzt iſt, und wir dürfen jetzt auf dieſen Abſchnitt
mit der einfachen Bemerkung zurückverweiſen, daß keine Geſtalt der Kunſt
dieſen Prozeß ſo rein und ſcharf zur Erſcheinung bringt, als das Drama.
Bei Ariſtoteles fehlt dieſe Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Idee
des Schickſals fehlt, ſtatt welcher er einfach empiriſch: Handlung, Um-
ſchwung, Glück und Unglück ſetzt, und ebenſo, weil ihm der tiefere Begriff
des Charakters fehlt, wie er als eine Form deſſelben allgemeinen Geiſtes,
der als Schickſal über ihn kommt, ſich ſelbſt dieſes Schickſal ſchmiedet, weil
er in den Zuſammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz iſt
dennoch höchſt wichtig und fruchtbar, denn die Geſchichte des Drama, na-
mentlich des neueren, zeigt, wie häufig man der falſchen Anſicht folgte, als
ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung ſchon ein Drama ſei.
Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, ſtatt von
da zum abſolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatiſche
Conception geht nicht von den Charakteren, ſondern von der Situation
aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Cha-
rakterbild aus den Bedingungen des Schickſals erwächst. So fordert z. B.
die Handlung im Othello ein Weib, das ſo wehrlos, ſo unfähig iſt, die
Zunge zu brauchen, daß ihre Unſchuld trotz allen Mißhandlungen zu ſpät
an den Tag kommt. Aus dieſer Bedingung iſt wie aus einem zarten
Keime dem Dichter ein himmliſches Bild verſchleierter, ſtiller, ſüßer Seelen-
ſchönheit, reiner Sanftmuth hervorgewachſen. So entwickelt das ächte Genie
den Charakter vorneherein aus dem Schickſal und vereinigt organiſch die
Kräfte, welche für dieſe beiden Seiten erforderlich ſind, in richtigem Ver-
hältniß. Dieſe Vereinigung iſt ſelten, die Talente und Richtungen ſind ſo
vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die
vorwärts geht und zu einer großen Entſcheidung drängt, componiren kann.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/251>, abgerufen am 22.11.2024.
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