Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der gezähmten Keiferinn eine organisch herrschende Einheit aufzuzeigen, werden gegen das Zugeständniß vertauscht werden müssen, daß der Dichter es im Lustspiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke alten Mauerwerks, der so fest ist, daß eher die Steine brechen, als die Fugen sich lösen lassen, ist aber doch nur Kitt. Es ist überhaupt eine gewagte Sache, zwei symmetrische Fabeln ohne Störung des Verhältnisses zwischen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und die Aufgabe wird nicht leicht wieder so gelöst werden wie im König Lear. Die einfache, natürliche Composition wird in klarer Unterordnung eine Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung so gruppiren, daß dieselben als Verästung ihres Stammes sich leicht zu erkennen geben. Sie dürfen sich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteristischen Styles nicht, zur epischen Fülle ausbreiten. Daß in dieser Ausbreitung vollends das Episodische auf den denkbar engsten Spielraum eingegrenzt wird, ergibt sich aus dem Grundgesetze straff angezogener Einheit. Es kann sich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird, als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheischt, niemals darum, ob eine Scene sich einschieben dürfe, die diesem Zwecke nicht dient, sie wäre denn klein und anspruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Absicht haben, den Typus eines Standes, die Form gewisser Culturzustände zu einer relativen Selbständigkeit des Bildes zu entwickeln, aber sie sei nach Anfang und Ende fest eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beispiele gibt §. 496, Anm. -- Zwischen dem Momente der Einheit und Vielheit liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterschied von Hinter- grund und Vordergrund, den wir schon im epischen Gebiet (§. 870, 2.) aufgeführt haben und der in seiner Anwendung auf das Drama nicht ver- wechselt werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff. aufgestellt ist, um das Wesen der tragischen Bewegung zu bestimmen. Jetzt hat er spezifisch künstlerische Bedeutung. Hintergrund ist z. B. in Romeo und Julie der Zwist der Familien (wesentlich bedeutend als Schooß, woraus das tragische Geschick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenstein sind es eben- falls die Kriegsverhältnisse, in Wilh. Tell das sich verschwörende, dann handelnde Volk. Der Hintergrund ist der Boden, worauf die Handlung vor sich geht, deutet auf das Massenhafte, das breite Weltwesen hinaus; dieß verhält sich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit ausgeführt, im Drama soll er nur eben so viel Entwicklung genießen, daß er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Voraussetzung, begleitende Erklärung, Atmosphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenstein seinen "Pulvergeruch".
Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der gezähmten Keiferinn eine organiſch herrſchende Einheit aufzuzeigen, werden gegen das Zugeſtändniß vertauſcht werden müſſen, daß der Dichter es im Luſtſpiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke alten Mauerwerks, der ſo feſt iſt, daß eher die Steine brechen, als die Fugen ſich löſen laſſen, iſt aber doch nur Kitt. Es iſt überhaupt eine gewagte Sache, zwei ſymmetriſche Fabeln ohne Störung des Verhältniſſes zwiſchen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und die Aufgabe wird nicht leicht wieder ſo gelöst werden wie im König Lear. Die einfache, natürliche Compoſition wird in klarer Unterordnung eine Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung ſo gruppiren, daß dieſelben als Veräſtung ihres Stammes ſich leicht zu erkennen geben. Sie dürfen ſich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteriſtiſchen Styles nicht, zur epiſchen Fülle ausbreiten. Daß in dieſer Ausbreitung vollends das Epiſodiſche auf den denkbar engſten Spielraum eingegrenzt wird, ergibt ſich aus dem Grundgeſetze ſtraff angezogener Einheit. Es kann ſich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird, als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheiſcht, niemals darum, ob eine Scene ſich einſchieben dürfe, die dieſem Zwecke nicht dient, ſie wäre denn klein und anſpruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Abſicht haben, den Typus eines Standes, die Form gewiſſer Culturzuſtände zu einer relativen Selbſtändigkeit des Bildes zu entwickeln, aber ſie ſei nach Anfang und Ende feſt eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beiſpiele gibt §. 496, Anm. — Zwiſchen dem Momente der Einheit und Vielheit liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterſchied von Hinter- grund und Vordergrund, den wir ſchon im epiſchen Gebiet (§. 870, 2.) aufgeführt haben und der in ſeiner Anwendung auf das Drama nicht ver- wechſelt werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff. aufgeſtellt iſt, um das Weſen der tragiſchen Bewegung zu beſtimmen. Jetzt hat er ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung. Hintergrund iſt z. B. in Romeo und Julie der Zwiſt der Familien (weſentlich bedeutend als Schooß, woraus das tragiſche Geſchick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenſtein ſind es eben- falls die Kriegsverhältniſſe, in Wilh. Tell das ſich verſchwörende, dann handelnde Volk. Der Hintergrund iſt der Boden, worauf die Handlung vor ſich geht, deutet auf das Maſſenhafte, das breite Weltweſen hinaus; dieß verhält ſich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit ausgeführt, im Drama ſoll er nur eben ſo viel Entwicklung genießen, daß er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Vorausſetzung, begleitende Erklärung, Atmoſphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenſtein ſeinen „Pulvergeruch“.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0261"n="1397"/>
Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der<lb/>
gezähmten Keiferinn eine organiſch herrſchende Einheit aufzuzeigen, werden<lb/>
gegen das Zugeſtändniß vertauſcht werden müſſen, daß der Dichter es im<lb/>
Luſtſpiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke<lb/>
alten Mauerwerks, der ſo feſt iſt, daß eher die Steine brechen, als die<lb/>
Fugen ſich löſen laſſen, iſt aber doch nur Kitt. Es iſt überhaupt eine<lb/>
gewagte Sache, zwei ſymmetriſche Fabeln ohne Störung des Verhältniſſes<lb/>
zwiſchen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und<lb/>
die Aufgabe wird nicht leicht wieder ſo gelöst werden wie im König Lear.<lb/>
Die einfache, natürliche Compoſition wird in klarer Unterordnung eine<lb/>
Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung ſo gruppiren,<lb/>
daß dieſelben als Veräſtung ihres Stammes ſich leicht zu erkennen geben.<lb/>
Sie dürfen ſich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteriſtiſchen<lb/>
Styles nicht, zur epiſchen Fülle ausbreiten. Daß in dieſer Ausbreitung<lb/>
vollends das Epiſodiſche auf den denkbar engſten Spielraum eingegrenzt<lb/>
wird, ergibt ſich aus dem Grundgeſetze ſtraff angezogener Einheit. Es kann<lb/>ſich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird,<lb/>
als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheiſcht, niemals darum, ob<lb/>
eine Scene ſich einſchieben dürfe, die dieſem Zwecke nicht dient, ſie wäre<lb/>
denn klein und anſpruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Abſicht<lb/>
haben, den Typus eines Standes, die Form gewiſſer Culturzuſtände zu<lb/>
einer relativen Selbſtändigkeit des Bildes zu entwickeln, aber ſie ſei nach<lb/>
Anfang und Ende feſt eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beiſpiele<lb/>
gibt §. 496, Anm. — Zwiſchen dem Momente der Einheit und Vielheit<lb/>
liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterſchied von Hinter-<lb/>
grund und Vordergrund, den wir ſchon im epiſchen Gebiet (§. 870, <hirendition="#sub">2.</hi>)<lb/>
aufgeführt haben und der in ſeiner Anwendung auf das Drama nicht ver-<lb/>
wechſelt werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff.<lb/>
aufgeſtellt iſt, um das Weſen der tragiſchen Bewegung zu beſtimmen. Jetzt<lb/>
hat er ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung. Hintergrund iſt z. B. in Romeo und<lb/>
Julie der Zwiſt der Familien (weſentlich bedeutend als Schooß, woraus<lb/>
das tragiſche Geſchick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig<lb/>
ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenſtein ſind es eben-<lb/>
falls die Kriegsverhältniſſe, in Wilh. Tell das ſich verſchwörende, dann<lb/>
handelnde Volk. Der Hintergrund iſt der Boden, worauf die Handlung<lb/>
vor ſich geht, deutet auf das Maſſenhafte, das breite Weltweſen hinaus;<lb/>
dieß verhält ſich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit<lb/>
ausgeführt, im Drama ſoll er nur eben ſo viel Entwicklung genießen, daß<lb/>
er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Vorausſetzung, begleitende<lb/>
Erklärung, Atmoſphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenſtein ſeinen<lb/>„Pulvergeruch“.</hi></p><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1397/0261]
Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der
gezähmten Keiferinn eine organiſch herrſchende Einheit aufzuzeigen, werden
gegen das Zugeſtändniß vertauſcht werden müſſen, daß der Dichter es im
Luſtſpiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke
alten Mauerwerks, der ſo feſt iſt, daß eher die Steine brechen, als die
Fugen ſich löſen laſſen, iſt aber doch nur Kitt. Es iſt überhaupt eine
gewagte Sache, zwei ſymmetriſche Fabeln ohne Störung des Verhältniſſes
zwiſchen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und
die Aufgabe wird nicht leicht wieder ſo gelöst werden wie im König Lear.
Die einfache, natürliche Compoſition wird in klarer Unterordnung eine
Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung ſo gruppiren,
daß dieſelben als Veräſtung ihres Stammes ſich leicht zu erkennen geben.
Sie dürfen ſich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteriſtiſchen
Styles nicht, zur epiſchen Fülle ausbreiten. Daß in dieſer Ausbreitung
vollends das Epiſodiſche auf den denkbar engſten Spielraum eingegrenzt
wird, ergibt ſich aus dem Grundgeſetze ſtraff angezogener Einheit. Es kann
ſich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird,
als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheiſcht, niemals darum, ob
eine Scene ſich einſchieben dürfe, die dieſem Zwecke nicht dient, ſie wäre
denn klein und anſpruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Abſicht
haben, den Typus eines Standes, die Form gewiſſer Culturzuſtände zu
einer relativen Selbſtändigkeit des Bildes zu entwickeln, aber ſie ſei nach
Anfang und Ende feſt eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beiſpiele
gibt §. 496, Anm. — Zwiſchen dem Momente der Einheit und Vielheit
liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterſchied von Hinter-
grund und Vordergrund, den wir ſchon im epiſchen Gebiet (§. 870, 2.)
aufgeführt haben und der in ſeiner Anwendung auf das Drama nicht ver-
wechſelt werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff.
aufgeſtellt iſt, um das Weſen der tragiſchen Bewegung zu beſtimmen. Jetzt
hat er ſpezifiſch künſtleriſche Bedeutung. Hintergrund iſt z. B. in Romeo und
Julie der Zwiſt der Familien (weſentlich bedeutend als Schooß, woraus
das tragiſche Geſchick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig
ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenſtein ſind es eben-
falls die Kriegsverhältniſſe, in Wilh. Tell das ſich verſchwörende, dann
handelnde Volk. Der Hintergrund iſt der Boden, worauf die Handlung
vor ſich geht, deutet auf das Maſſenhafte, das breite Weltweſen hinaus;
dieß verhält ſich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit
ausgeführt, im Drama ſoll er nur eben ſo viel Entwicklung genießen, daß
er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Vorausſetzung, begleitende
Erklärung, Atmoſphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenſtein ſeinen
„Pulvergeruch“.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/261>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.