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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Mörders eintritt, dann die Pförtnerscene nach der Vollziehung und vor der
Entdeckung des Mords (wobei wir von der Frage absehen, ob es passend
sei, daß sie komisch behandelt ist); Lear's Schlaf ist ein rührendes Ausruhen
von den vorhergegangenen Stürmen auch für den Zuschauer, aber ebenso-
sehr ein Moment, wo wir uns für das Letzte, Traurigste vorbereiten müssen.
Im Wallenstein ist das Liebes-Verhältniß zwischen Max und Thekla, auch
das Astrologische ein wiederkehrender, zu sehr ausgedehnter Ruhepunct, ein
äußerst wohlerfundener und schön ausgeführter die Scene, wo Wallenstein
zum letzten Mal, in der Stimmung milder Wehmuth, auftritt. Daß die
Monologe im Allgemeinen ebenfalls unter diesen Standpunct fallen, ist
schon zu §. 901, 2. berührt; sie beruhigen durch die Einkehr in sich, es er-
streckt sich aber die vorhergehende Wirkung in sie herein und die kommende
erzeugt sich in ihnen.

Was nun den Rhythmus dieser ganzen Bewegung und seine Tempi
betrifft, so findet hier die deutlichste und vollste Anwendung, was §. 500, 2.
aufgestellt und erläutert ist. Dort haben wir bereits einen Blick auf das
Drama geworfen und gezeigt, wie sich die Dreiheit der Hauptmomente,
welche Aristoteles unterscheidet, Anfang, Mitte und Ende, zu der Zweiheit
der Schürzung und Lösung verhält, in welche er das Ganze der Tragödie
setzt: die Schürzung zerfällt in Vorbereitung und steigende, ihren Gipfel
erreichende Verwicklung, also in zwei Momente, und dann folgt als drittes
die Lösung, die Abwicklung, in ihrer entscheidenden Krisis Katastrophe,
als Bild des Schicksal-Umschlags von Glück in Unglück die Peripetie
genannt. Der Anfang oder die Vorbereitung heißt Exposition, im Unter-
schiede von der engeren Bedeutung des Wortes, welche sich auf eine Er-
zählung beschränkt, die zum Eingang von der Lage der Dinge Bericht
erstattet: die Exposition (der Prologos in der Eintheilung der Griechen)
im weiteren Sinne gibt das, woraus die Handlung als ihrem Keime sich
entwickelt, die Situation. Die Diagnose der ächt dramatischen Situation
ist wesentliche Eigenschaft des ächten dramatischen Dichters und sein bester
Glücksstern, wenn er Stoffe findet, die sie ihm darbieten. Die Lage eines
Oedipus, einer Antigone, eines Orestes, Hamlet, das sind dramatische
Situationen. Natürlich ist aber die Exposition nicht ruhiges Bild, sondern
es geschieht schon wesentlich etwas, wodurch die Handlung in Gang kommt,
die Dinge sich verwickeln müssen, wie z. B. im Tell der Zustand des schönen
Hirtenlandes unter dem Drucke der Vögte nicht etwa blos durch Schilderung
und Gefühl sich darstellt, sondern sogleich neue Gewaltthaten der Tyrannei,
Acte der Selbsthülfe, Entschlüsse zu Thaten auf der Seite der Schweizer
erfolgen. Der mittlere Theil, die Verwicklung oder Schürzung, ist die
Strecke, worin recht die dramatische Spannung ihren Sitz hat, naturgemäß
der ausgedehnteste, der in die reichste Reihe von Momenten sich zerlegt.

Mörders eintritt, dann die Pförtnerſcene nach der Vollziehung und vor der
Entdeckung des Mords (wobei wir von der Frage abſehen, ob es paſſend
ſei, daß ſie komiſch behandelt iſt); Lear’s Schlaf iſt ein rührendes Ausruhen
von den vorhergegangenen Stürmen auch für den Zuſchauer, aber ebenſo-
ſehr ein Moment, wo wir uns für das Letzte, Traurigſte vorbereiten müſſen.
Im Wallenſtein iſt das Liebes-Verhältniß zwiſchen Max und Thekla, auch
das Aſtrologiſche ein wiederkehrender, zu ſehr ausgedehnter Ruhepunct, ein
äußerſt wohlerfundener und ſchön ausgeführter die Scene, wo Wallenſtein
zum letzten Mal, in der Stimmung milder Wehmuth, auftritt. Daß die
Monologe im Allgemeinen ebenfalls unter dieſen Standpunct fallen, iſt
ſchon zu §. 901, 2. berührt; ſie beruhigen durch die Einkehr in ſich, es er-
ſtreckt ſich aber die vorhergehende Wirkung in ſie herein und die kommende
erzeugt ſich in ihnen.

Was nun den Rhythmus dieſer ganzen Bewegung und ſeine Tempi
betrifft, ſo findet hier die deutlichſte und vollſte Anwendung, was §. 500, 2.
aufgeſtellt und erläutert iſt. Dort haben wir bereits einen Blick auf das
Drama geworfen und gezeigt, wie ſich die Dreiheit der Hauptmomente,
welche Ariſtoteles unterſcheidet, Anfang, Mitte und Ende, zu der Zweiheit
der Schürzung und Löſung verhält, in welche er das Ganze der Tragödie
ſetzt: die Schürzung zerfällt in Vorbereitung und ſteigende, ihren Gipfel
erreichende Verwicklung, alſo in zwei Momente, und dann folgt als drittes
die Löſung, die Abwicklung, in ihrer entſcheidenden Kriſis Kataſtrophe,
als Bild des Schickſal-Umſchlags von Glück in Unglück die Peripetie
genannt. Der Anfang oder die Vorbereitung heißt Expoſition, im Unter-
ſchiede von der engeren Bedeutung des Wortes, welche ſich auf eine Er-
zählung beſchränkt, die zum Eingang von der Lage der Dinge Bericht
erſtattet: die Expoſition (der Prologos in der Eintheilung der Griechen)
im weiteren Sinne gibt das, woraus die Handlung als ihrem Keime ſich
entwickelt, die Situation. Die Diagnoſe der ächt dramatiſchen Situation
iſt weſentliche Eigenſchaft des ächten dramatiſchen Dichters und ſein beſter
Glücksſtern, wenn er Stoffe findet, die ſie ihm darbieten. Die Lage eines
Oedipus, einer Antigone, eines Oreſtes, Hamlet, das ſind dramatiſche
Situationen. Natürlich iſt aber die Expoſition nicht ruhiges Bild, ſondern
es geſchieht ſchon weſentlich etwas, wodurch die Handlung in Gang kommt,
die Dinge ſich verwickeln müſſen, wie z. B. im Tell der Zuſtand des ſchönen
Hirtenlandes unter dem Drucke der Vögte nicht etwa blos durch Schilderung
und Gefühl ſich darſtellt, ſondern ſogleich neue Gewaltthaten der Tyrannei,
Acte der Selbſthülfe, Entſchlüſſe zu Thaten auf der Seite der Schweizer
erfolgen. Der mittlere Theil, die Verwicklung oder Schürzung, iſt die
Strecke, worin recht die dramatiſche Spannung ihren Sitz hat, naturgemäß
der ausgedehnteſte, der in die reichſte Reihe von Momenten ſich zerlegt.

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[1400/0264] Mörders eintritt, dann die Pförtnerſcene nach der Vollziehung und vor der Entdeckung des Mords (wobei wir von der Frage abſehen, ob es paſſend ſei, daß ſie komiſch behandelt iſt); Lear’s Schlaf iſt ein rührendes Ausruhen von den vorhergegangenen Stürmen auch für den Zuſchauer, aber ebenſo- ſehr ein Moment, wo wir uns für das Letzte, Traurigſte vorbereiten müſſen. Im Wallenſtein iſt das Liebes-Verhältniß zwiſchen Max und Thekla, auch das Aſtrologiſche ein wiederkehrender, zu ſehr ausgedehnter Ruhepunct, ein äußerſt wohlerfundener und ſchön ausgeführter die Scene, wo Wallenſtein zum letzten Mal, in der Stimmung milder Wehmuth, auftritt. Daß die Monologe im Allgemeinen ebenfalls unter dieſen Standpunct fallen, iſt ſchon zu §. 901, 2. berührt; ſie beruhigen durch die Einkehr in ſich, es er- ſtreckt ſich aber die vorhergehende Wirkung in ſie herein und die kommende erzeugt ſich in ihnen. Was nun den Rhythmus dieſer ganzen Bewegung und ſeine Tempi betrifft, ſo findet hier die deutlichſte und vollſte Anwendung, was §. 500, 2. aufgeſtellt und erläutert iſt. Dort haben wir bereits einen Blick auf das Drama geworfen und gezeigt, wie ſich die Dreiheit der Hauptmomente, welche Ariſtoteles unterſcheidet, Anfang, Mitte und Ende, zu der Zweiheit der Schürzung und Löſung verhält, in welche er das Ganze der Tragödie ſetzt: die Schürzung zerfällt in Vorbereitung und ſteigende, ihren Gipfel erreichende Verwicklung, alſo in zwei Momente, und dann folgt als drittes die Löſung, die Abwicklung, in ihrer entſcheidenden Kriſis Kataſtrophe, als Bild des Schickſal-Umſchlags von Glück in Unglück die Peripetie genannt. Der Anfang oder die Vorbereitung heißt Expoſition, im Unter- ſchiede von der engeren Bedeutung des Wortes, welche ſich auf eine Er- zählung beſchränkt, die zum Eingang von der Lage der Dinge Bericht erſtattet: die Expoſition (der Prologos in der Eintheilung der Griechen) im weiteren Sinne gibt das, woraus die Handlung als ihrem Keime ſich entwickelt, die Situation. Die Diagnoſe der ächt dramatiſchen Situation iſt weſentliche Eigenſchaft des ächten dramatiſchen Dichters und ſein beſter Glücksſtern, wenn er Stoffe findet, die ſie ihm darbieten. Die Lage eines Oedipus, einer Antigone, eines Oreſtes, Hamlet, das ſind dramatiſche Situationen. Natürlich iſt aber die Expoſition nicht ruhiges Bild, ſondern es geſchieht ſchon weſentlich etwas, wodurch die Handlung in Gang kommt, die Dinge ſich verwickeln müſſen, wie z. B. im Tell der Zuſtand des ſchönen Hirtenlandes unter dem Drucke der Vögte nicht etwa blos durch Schilderung und Gefühl ſich darſtellt, ſondern ſogleich neue Gewaltthaten der Tyrannei, Acte der Selbſthülfe, Entſchlüſſe zu Thaten auf der Seite der Schweizer erfolgen. Der mittlere Theil, die Verwicklung oder Schürzung, iſt die Strecke, worin recht die dramatiſche Spannung ihren Sitz hat, naturgemäß der ausgedehnteſte, der in die reichſte Reihe von Momenten ſich zerlegt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/264>, abgerufen am 22.11.2024.