ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig ist die Frage über die letzten Scenen, sofern dabei das Compositionsgesetz der schließlichen festen Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefsten Zusammenhang mit dem Inhalte zur Anwendung kommt. Es handelt sich im Tragischen darum, wie weit der Dichter uns eine Aussicht eröffnen will, die uns mit der Härte des Schicksals versöhnt. Diese Aussicht darf nicht zu entwickelt sein, wenn sie nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen und überdieß in die Breite des Empirischen, das neben dem idealen Aus- schnitte des Drama's eigentlich nicht existirt, ablenken soll; sie darf nicht fehlen, wie am Schlusse vom Don Carlos und in großen Schicksals- und Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat das Maaß am richtigsten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich wegzulassen, sind für dieses Moment der Composition sehr belehrend. Unter- lassung oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem so höchst concisen Kunstwerke wie das Drama viel verderben.
Der §. enthält nichts von cyclischen Compositionen, weil über eine zweifelhafte und wirklich unwesentliche Seite in Kürze nichts Positives auf- zustellen ist. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch sind die Glieder derselben, die sich wie Exposition, Verwicklung, Katastrophe im einzelnen Drama verhalten, ebensosehr selbständige, in sich abgeschlossene Dramen. Den innern Zusammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem Bewußtsein gegenwärtig. Die neuere Dichtung ist schon durch die, auf anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewiesen, Trilogieen zu vermeiden; denn die Aufführung müssen wir, obwohl wir sie jetzt noch nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken, daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zusammenhang im Bewußtsein der Zuschauer zerschneidet. Das einzelne Stück müßte um so selbständiger abgeschlossen sein, in demselben Grade lockert sich aber der organische Zusammenhang mit den andern. In Schiller's, -- wenn man sie so nennen kann, -- Trilogie des Wallenstein ist das Lager ein genre- artiges Vorspiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abschluß. -- Ein großartiges Beispiel eines umfassenderen, auf gewichtigen historischen Stoff und tiefen Schicksals-Zusammenhang gegründeten Cyclus geben Shakespeare's englische Dramen. Dieses Jugendwerk Shakespeare's (das z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke besteht) leidet unläugbar an chronikalisch-epischer Behandlung, man wird aber darum noch nicht be- haupten können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich gewesen, mit strengerer Ausscheidung des Stoffartigen eine Reihe cyclischer Dramen aus dieser Epoche der englischen Geschichte zu bilden. In der That kann es
ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig iſt die Frage über die letzten Scenen, ſofern dabei das Compoſitionsgeſetz der ſchließlichen feſten Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefſten Zuſammenhang mit dem Inhalte zur Anwendung kommt. Es handelt ſich im Tragiſchen darum, wie weit der Dichter uns eine Ausſicht eröffnen will, die uns mit der Härte des Schickſals verſöhnt. Dieſe Ausſicht darf nicht zu entwickelt ſein, wenn ſie nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen und überdieß in die Breite des Empiriſchen, das neben dem idealen Aus- ſchnitte des Drama’s eigentlich nicht exiſtirt, ablenken ſoll; ſie darf nicht fehlen, wie am Schluſſe vom Don Carlos und in großen Schickſals- und Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat das Maaß am richtigſten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich wegzulaſſen, ſind für dieſes Moment der Compoſition ſehr belehrend. Unter- laſſung oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem ſo höchſt conciſen Kunſtwerke wie das Drama viel verderben.
Der §. enthält nichts von cycliſchen Compoſitionen, weil über eine zweifelhafte und wirklich unweſentliche Seite in Kürze nichts Poſitives auf- zuſtellen iſt. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch ſind die Glieder derſelben, die ſich wie Expoſition, Verwicklung, Kataſtrophe im einzelnen Drama verhalten, ebenſoſehr ſelbſtändige, in ſich abgeſchloſſene Dramen. Den innern Zuſammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem Bewußtſein gegenwärtig. Die neuere Dichtung iſt ſchon durch die, auf anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewieſen, Trilogieen zu vermeiden; denn die Aufführung müſſen wir, obwohl wir ſie jetzt noch nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken, daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zuſammenhang im Bewußtſein der Zuſchauer zerſchneidet. Das einzelne Stück müßte um ſo ſelbſtändiger abgeſchloſſen ſein, in demſelben Grade lockert ſich aber der organiſche Zuſammenhang mit den andern. In Schiller’s, — wenn man ſie ſo nennen kann, — Trilogie des Wallenſtein iſt das Lager ein genre- artiges Vorſpiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abſchluß. — Ein großartiges Beiſpiel eines umfaſſenderen, auf gewichtigen hiſtoriſchen Stoff und tiefen Schickſals-Zuſammenhang gegründeten Cyclus geben Shakespeare’s engliſche Dramen. Dieſes Jugendwerk Shakespeare’s (das z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke beſteht) leidet unläugbar an chronikaliſch-epiſcher Behandlung, man wird aber darum noch nicht be- haupten können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich geweſen, mit ſtrengerer Ausſcheidung des Stoffartigen eine Reihe cycliſcher Dramen aus dieſer Epoche der engliſchen Geſchichte zu bilden. In der That kann es
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[1402/0266]
ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig iſt die Frage über die
letzten Scenen, ſofern dabei das Compoſitionsgeſetz der ſchließlichen feſten
Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefſten Zuſammenhang mit dem Inhalte
zur Anwendung kommt. Es handelt ſich im Tragiſchen darum, wie weit
der Dichter uns eine Ausſicht eröffnen will, die uns mit der Härte des
Schickſals verſöhnt. Dieſe Ausſicht darf nicht zu entwickelt ſein, wenn ſie
nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen
und überdieß in die Breite des Empiriſchen, das neben dem idealen Aus-
ſchnitte des Drama’s eigentlich nicht exiſtirt, ablenken ſoll; ſie darf nicht
fehlen, wie am Schluſſe vom Don Carlos und in großen Schickſals- und
Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat
das Maaß am richtigſten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut
thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich
wegzulaſſen, ſind für dieſes Moment der Compoſition ſehr belehrend. Unter-
laſſung oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem ſo
höchſt conciſen Kunſtwerke wie das Drama viel verderben.
Der §. enthält nichts von cycliſchen Compoſitionen, weil über eine
zweifelhafte und wirklich unweſentliche Seite in Kürze nichts Poſitives auf-
zuſtellen iſt. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke
an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch ſind die Glieder
derſelben, die ſich wie Expoſition, Verwicklung, Kataſtrophe im einzelnen
Drama verhalten, ebenſoſehr ſelbſtändige, in ſich abgeſchloſſene Dramen.
Den innern Zuſammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem
Bewußtſein gegenwärtig. Die neuere Dichtung iſt ſchon durch die, auf
anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewieſen, Trilogieen
zu vermeiden; denn die Aufführung müſſen wir, obwohl wir ſie jetzt noch
nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken,
daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zuſammenhang im
Bewußtſein der Zuſchauer zerſchneidet. Das einzelne Stück müßte um ſo
ſelbſtändiger abgeſchloſſen ſein, in demſelben Grade lockert ſich aber der
organiſche Zuſammenhang mit den andern. In Schiller’s, — wenn man
ſie ſo nennen kann, — Trilogie des Wallenſtein iſt das Lager ein genre-
artiges Vorſpiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abſchluß. —
Ein großartiges Beiſpiel eines umfaſſenderen, auf gewichtigen hiſtoriſchen
Stoff und tiefen Schickſals-Zuſammenhang gegründeten Cyclus geben
Shakespeare’s engliſche Dramen. Dieſes Jugendwerk Shakespeare’s (das
z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke beſteht) leidet unläugbar
an chronikaliſch-epiſcher Behandlung, man wird aber darum noch nicht be-
haupten können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich geweſen, mit
ſtrengerer Ausſcheidung des Stoffartigen eine Reihe cycliſcher Dramen aus
dieſer Epoche der engliſchen Geſchichte zu bilden. In der That kann es
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/266>, abgerufen am 21.11.2024.
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