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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Gepräge des wesentlichen, großen Pathos zugleich das der Lebenswärme
war. Die geringe Anzahl der Personen folgt aus der Einfachheit der
Handlung, findet aber ihre Ergänzung im Chore.

Der innerste Mangel dieses Drama liegt nun aber in dem antiken
Schicksalsbegriffe. Was in den angeführten §§. über diesen gesagt ist,
fassen wir nur mit Wenigem noch einmal auf. Es unterscheiden sich leicht
zwei Formen des tragischen Prozesses im griechischen Drama, in deren einer
die Schuld klarer und bestimmter ist unbeschadet des Zwielichtes, das sie
von der einen Seite mildert, indem man sich den ganzen Heldencharakter
und die ganze Situation anders denken müßte, wenn es ohne Schuld
abgehen sollte, während in der andern das Schicksal weit mehr noch die
tückisch auflauernde, neidische Macht des älteren Volksglaubens ist, die den
Helden gerade durch die Mittel, die er ergreift, ihm zu entgehen, in's Elend
stürzt. Diese zweite Form tritt nirgends so bestimmt auf, wie im Oedipus.
Ganz ohne Schuld geht es allerdings auch in ihr nicht ab; im Oedipus
ziehen wir aus dem herrischen, jähzornigen Wesen des Helden einen dunkeln
Schluß auf eine ubris, welche nicht ganz ungerecht gedemüthigt wird. Allein
in beiden Formen wird der Schuldbegriff getrübt und gekreuzt dadurch, daß
das Schicksal durch Träume, Seher, Orakel prophezeit, also zum Voraus
gesetzt ist: Ausfluß eines finstern Geistes der Nemesis, der durch ganze
Häuser geht und das Verbrechen des Ahnherrn im Enkel straft. Die Schuld
des Enkels fällt nun in schwankender Verwirrung halb mit unter den Be-
griff der über das Geschlecht verhängten Strafe. Wo das Schicksal vor-
herbestimmt ist, kann es sich nie und nimmer rein aus dem Gange der
Handlung als Resultat erzeugen. In richtiger Betrachtung ist das, was
als Resultat hervorspringt, freilich immer schon im Anfang der Handlung
angelegt, aber nur implicite, nicht, wie bei den Griechen, explicite. Der
Begriff der Vorherbestimmung ist überhaupt ein falscher, tödtet allen wahren
Begriff von Schuld, Handlung, Menschenleben. Die Allwissenheit hat nur
Sinn, wenn man erst die Kategorie des Vorher und Nachher in der Zeit
aufgehoben hat. Die Griechen haben jene Antinomie von absolutem Schicksal
und Schuld ungelöst stehen lassen und es wird dabei bleiben, daß dieß der
kranke, immer beunruhigende Punct in ihrer Tragödie ist.

Der Chor ist bekanntlich die stehengebliebene Wurzel, woraus die Tra-
gödie hervorgegangen ist; er bewahrt den Ursprung aus den Gesängen des
Dionysischen Cultus als wesentlichen Theil und stehenden Zug ihres reli-
giösen Charakters. Episch ist er seiner realen Bedeutung nach als Zuziehung
des Volkes zu der Handlung, die auf den Höhen des Lebens, unter den
Heroen vor sich geht, als Ausdruck der Oeffentlichkeit, also des Massenhaften,
Ausgedehnten. Das real Allgemeine, dieser Grund und Boden, aus dem
sich die Helden erheben, wird aber im Inhalte der Chorgesänge zum ideal

Gepräge des weſentlichen, großen Pathos zugleich das der Lebenswärme
war. Die geringe Anzahl der Perſonen folgt aus der Einfachheit der
Handlung, findet aber ihre Ergänzung im Chore.

Der innerſte Mangel dieſes Drama liegt nun aber in dem antiken
Schickſalsbegriffe. Was in den angeführten §§. über dieſen geſagt iſt,
faſſen wir nur mit Wenigem noch einmal auf. Es unterſcheiden ſich leicht
zwei Formen des tragiſchen Prozeſſes im griechiſchen Drama, in deren einer
die Schuld klarer und beſtimmter iſt unbeſchadet des Zwielichtes, das ſie
von der einen Seite mildert, indem man ſich den ganzen Heldencharakter
und die ganze Situation anders denken müßte, wenn es ohne Schuld
abgehen ſollte, während in der andern das Schickſal weit mehr noch die
tückiſch auflauernde, neidiſche Macht des älteren Volksglaubens iſt, die den
Helden gerade durch die Mittel, die er ergreift, ihm zu entgehen, in’s Elend
ſtürzt. Dieſe zweite Form tritt nirgends ſo beſtimmt auf, wie im Oedipus.
Ganz ohne Schuld geht es allerdings auch in ihr nicht ab; im Oedipus
ziehen wir aus dem herriſchen, jähzornigen Weſen des Helden einen dunkeln
Schluß auf eine ὕβρις, welche nicht ganz ungerecht gedemüthigt wird. Allein
in beiden Formen wird der Schuldbegriff getrübt und gekreuzt dadurch, daß
das Schickſal durch Träume, Seher, Orakel prophezeit, alſo zum Voraus
geſetzt iſt: Ausfluß eines finſtern Geiſtes der Nemeſis, der durch ganze
Häuſer geht und das Verbrechen des Ahnherrn im Enkel ſtraft. Die Schuld
des Enkels fällt nun in ſchwankender Verwirrung halb mit unter den Be-
griff der über das Geſchlecht verhängten Strafe. Wo das Schickſal vor-
herbeſtimmt iſt, kann es ſich nie und nimmer rein aus dem Gange der
Handlung als Reſultat erzeugen. In richtiger Betrachtung iſt das, was
als Reſultat hervorſpringt, freilich immer ſchon im Anfang der Handlung
angelegt, aber nur implicite, nicht, wie bei den Griechen, explicite. Der
Begriff der Vorherbeſtimmung iſt überhaupt ein falſcher, tödtet allen wahren
Begriff von Schuld, Handlung, Menſchenleben. Die Allwiſſenheit hat nur
Sinn, wenn man erſt die Kategorie des Vorher und Nachher in der Zeit
aufgehoben hat. Die Griechen haben jene Antinomie von abſolutem Schickſal
und Schuld ungelöst ſtehen laſſen und es wird dabei bleiben, daß dieß der
kranke, immer beunruhigende Punct in ihrer Tragödie iſt.

Der Chor iſt bekanntlich die ſtehengebliebene Wurzel, woraus die Tra-
gödie hervorgegangen iſt; er bewahrt den Urſprung aus den Geſängen des
Dionyſiſchen Cultus als weſentlichen Theil und ſtehenden Zug ihres reli-
giöſen Charakters. Epiſch iſt er ſeiner realen Bedeutung nach als Zuziehung
des Volkes zu der Handlung, die auf den Höhen des Lebens, unter den
Heroen vor ſich geht, als Ausdruck der Oeffentlichkeit, alſo des Maſſenhaften,
Ausgedehnten. Das real Allgemeine, dieſer Grund und Boden, aus dem
ſich die Helden erheben, wird aber im Inhalte der Chorgeſänge zum ideal

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[1410/0274] Gepräge des weſentlichen, großen Pathos zugleich das der Lebenswärme war. Die geringe Anzahl der Perſonen folgt aus der Einfachheit der Handlung, findet aber ihre Ergänzung im Chore. Der innerſte Mangel dieſes Drama liegt nun aber in dem antiken Schickſalsbegriffe. Was in den angeführten §§. über dieſen geſagt iſt, faſſen wir nur mit Wenigem noch einmal auf. Es unterſcheiden ſich leicht zwei Formen des tragiſchen Prozeſſes im griechiſchen Drama, in deren einer die Schuld klarer und beſtimmter iſt unbeſchadet des Zwielichtes, das ſie von der einen Seite mildert, indem man ſich den ganzen Heldencharakter und die ganze Situation anders denken müßte, wenn es ohne Schuld abgehen ſollte, während in der andern das Schickſal weit mehr noch die tückiſch auflauernde, neidiſche Macht des älteren Volksglaubens iſt, die den Helden gerade durch die Mittel, die er ergreift, ihm zu entgehen, in’s Elend ſtürzt. Dieſe zweite Form tritt nirgends ſo beſtimmt auf, wie im Oedipus. Ganz ohne Schuld geht es allerdings auch in ihr nicht ab; im Oedipus ziehen wir aus dem herriſchen, jähzornigen Weſen des Helden einen dunkeln Schluß auf eine ὕβρις, welche nicht ganz ungerecht gedemüthigt wird. Allein in beiden Formen wird der Schuldbegriff getrübt und gekreuzt dadurch, daß das Schickſal durch Träume, Seher, Orakel prophezeit, alſo zum Voraus geſetzt iſt: Ausfluß eines finſtern Geiſtes der Nemeſis, der durch ganze Häuſer geht und das Verbrechen des Ahnherrn im Enkel ſtraft. Die Schuld des Enkels fällt nun in ſchwankender Verwirrung halb mit unter den Be- griff der über das Geſchlecht verhängten Strafe. Wo das Schickſal vor- herbeſtimmt iſt, kann es ſich nie und nimmer rein aus dem Gange der Handlung als Reſultat erzeugen. In richtiger Betrachtung iſt das, was als Reſultat hervorſpringt, freilich immer ſchon im Anfang der Handlung angelegt, aber nur implicite, nicht, wie bei den Griechen, explicite. Der Begriff der Vorherbeſtimmung iſt überhaupt ein falſcher, tödtet allen wahren Begriff von Schuld, Handlung, Menſchenleben. Die Allwiſſenheit hat nur Sinn, wenn man erſt die Kategorie des Vorher und Nachher in der Zeit aufgehoben hat. Die Griechen haben jene Antinomie von abſolutem Schickſal und Schuld ungelöst ſtehen laſſen und es wird dabei bleiben, daß dieß der kranke, immer beunruhigende Punct in ihrer Tragödie iſt. Der Chor iſt bekanntlich die ſtehengebliebene Wurzel, woraus die Tra- gödie hervorgegangen iſt; er bewahrt den Urſprung aus den Geſängen des Dionyſiſchen Cultus als weſentlichen Theil und ſtehenden Zug ihres reli- giöſen Charakters. Epiſch iſt er ſeiner realen Bedeutung nach als Zuziehung des Volkes zu der Handlung, die auf den Höhen des Lebens, unter den Heroen vor ſich geht, als Ausdruck der Oeffentlichkeit, alſo des Maſſenhaften, Ausgedehnten. Das real Allgemeine, dieſer Grund und Boden, aus dem ſich die Helden erheben, wird aber im Inhalte der Chorgeſänge zum ideal

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/274>, abgerufen am 22.11.2024.