Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im negativ oder positiv Tragischen bewegen und es läßt sich nur bedingt aussprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im All- gemeinen mehr die zweite Form zu begründen geeignet sei. Wichtig ist neben der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterschied der Charaktere, indem der freiere, sittlich harmonische das Mittel ist, auch den schwereren Conflict glücklich zu lösen. Je fühlbarer dieser Schluß von Anfang an gesichert erscheint, desto stärkere Einmischung des Komischen ist gerechtfertigt; womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.
Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen ist, mag der Ausgang auch ein glücklicher sein, wofern nur der endliche Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung sich darstellt, die den Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht schuldloses, vielmehr der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derselben erscheint. Es bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragische die wahrere, tiefere, bedeutendere Form ist. Die Geschichte hat Momente, wo sie einer ver- söhnten Weltanschauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten Geistes schon durch den Stoff entgegenkommt; ein solcher Stoff ist der des W. Tell. Allein die Dichtkunst faßt die Geschichte als bewegtes Ganzes auf, behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf diesem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf, worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß sie nicht rein, daß sie nicht das Ganze ist, und darum zieht sie es vor, den ewig neuen Sieg im ewigen Kampfe nur in der Perspective zu zeigen. Die dramatische Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang aufzuweisen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und des Privat- lebens zu einem solchen eher neige, läßt sich nicht objectiv, sondern nur subjectiv behaupten; d. h. sofern die weniger heroisch gehobene Stimmung dieser Stoffe es mit sich bringen mag, daß der Dichter den schneidenden Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten nicht fehlt. Das im engeren Sinne sogenannte Schauspiel, das bürgerliche Rührstück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es seinen Standpunct in einer trivialen Ansicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte, als wäre sie juristische Belohnung und Bestrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.). Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in's Kleine malende Art des charakteristischen Styls war eigentlich komödisch und es ist nur Schade, daß so viel Gutes, wie es sich in jener Literatur findet, nicht im Zusammenhange von Komödien steht. In seinem Nathan vergißt Lessing, welchen schweren Conflict zwischen dem Fanatismus des Christenthums und
§. 914.
Sämmtliche Stoffgebiete, Auffaſſungen und Stylrichtungen können ſich im negativ oder poſitiv Tragiſchen bewegen und es läßt ſich nur bedingt ausſprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im All- gemeinen mehr die zweite Form zu begründen geeignet ſei. Wichtig iſt neben der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterſchied der Charaktere, indem der freiere, ſittlich harmoniſche das Mittel iſt, auch den ſchwereren Conflict glücklich zu löſen. Je fühlbarer dieſer Schluß von Anfang an geſichert erſcheint, deſto ſtärkere Einmiſchung des Komiſchen iſt gerechtfertigt; womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.
Es iſt wiederholt geſagt worden, daß ein Drama tragiſch zu nennen iſt, mag der Ausgang auch ein glücklicher ſein, wofern nur der endliche Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung ſich darſtellt, die den Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht ſchuldloſes, vielmehr der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derſelben erſcheint. Es bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragiſche die wahrere, tiefere, bedeutendere Form iſt. Die Geſchichte hat Momente, wo ſie einer ver- ſöhnten Weltanſchauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten Geiſtes ſchon durch den Stoff entgegenkommt; ein ſolcher Stoff iſt der des W. Tell. Allein die Dichtkunſt faßt die Geſchichte als bewegtes Ganzes auf, behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf dieſem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf, worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß ſie nicht rein, daß ſie nicht das Ganze iſt, und darum zieht ſie es vor, den ewig neuen Sieg im ewigen Kampfe nur in der Perſpective zu zeigen. Die dramatiſche Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang aufzuweiſen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft und des Privat- lebens zu einem ſolchen eher neige, läßt ſich nicht objectiv, ſondern nur ſubjectiv behaupten; d. h. ſofern die weniger heroiſch gehobene Stimmung dieſer Stoffe es mit ſich bringen mag, daß der Dichter den ſchneidenden Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten nicht fehlt. Das im engeren Sinne ſogenannte Schauſpiel, das bürgerliche Rührſtück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es ſeinen Standpunct in einer trivialen Anſicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte, als wäre ſie juriſtiſche Belohnung und Beſtrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.). Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in’s Kleine malende Art des charakteriſtiſchen Styls war eigentlich komödiſch und es iſt nur Schade, daß ſo viel Gutes, wie es ſich in jener Literatur findet, nicht im Zuſammenhange von Komödien ſteht. In ſeinem Nathan vergißt Leſſing, welchen ſchweren Conflict zwiſchen dem Fanatismus des Chriſtenthums und
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§. 914.
Sämmtliche Stoffgebiete, Auffaſſungen und Stylrichtungen können ſich im
negativ oder poſitiv Tragiſchen bewegen und es läßt ſich nur bedingt
ausſprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im All-
gemeinen mehr die zweite Form zu begründen geeignet ſei. Wichtig iſt neben
der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterſchied der
Charaktere, indem der freiere, ſittlich harmoniſche das Mittel iſt, auch den
ſchwereren Conflict glücklich zu löſen. Je fühlbarer dieſer Schluß von Anfang
an geſichert erſcheint, deſto ſtärkere Einmiſchung des Komiſchen iſt gerechtfertigt;
womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.
Es iſt wiederholt geſagt worden, daß ein Drama tragiſch zu nennen
iſt, mag der Ausgang auch ein glücklicher ſein, wofern nur der endliche
Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung ſich darſtellt, die den
Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht ſchuldloſes, vielmehr
der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derſelben erſcheint. Es
bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragiſche die wahrere, tiefere,
bedeutendere Form iſt. Die Geſchichte hat Momente, wo ſie einer ver-
ſöhnten Weltanſchauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten
Geiſtes ſchon durch den Stoff entgegenkommt; ein ſolcher Stoff iſt der des
W. Tell. Allein die Dichtkunſt faßt die Geſchichte als bewegtes Ganzes auf,
behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf
dieſem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf,
worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß ſie nicht rein, daß
ſie nicht das Ganze iſt, und darum zieht ſie es vor, den ewig neuen Sieg
im ewigen Kampfe nur in der Perſpective zu zeigen. Die dramatiſche
Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang
aufzuweiſen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft und des Privat-
lebens zu einem ſolchen eher neige, läßt ſich nicht objectiv, ſondern nur
ſubjectiv behaupten; d. h. ſofern die weniger heroiſch gehobene Stimmung
dieſer Stoffe es mit ſich bringen mag, daß der Dichter den ſchneidenden
Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten
nicht fehlt. Das im engeren Sinne ſogenannte Schauſpiel, das bürgerliche
Rührſtück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es ſeinen Standpunct
in einer trivialen Anſicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte,
als wäre ſie juriſtiſche Belohnung und Beſtrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.).
Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in’s Kleine
malende Art des charakteriſtiſchen Styls war eigentlich komödiſch und es iſt
nur Schade, daß ſo viel Gutes, wie es ſich in jener Literatur findet, nicht
im Zuſammenhange von Komödien ſteht. In ſeinem Nathan vergißt Leſſing,
welchen ſchweren Conflict zwiſchen dem Fanatismus des Chriſtenthums und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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