Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
doch das lebendige physikalische Dasein des Kunstwerks. Auch diese Be- §. 837. Die Kunst ist nun im eigentlichen Sinne sprechend und damit erst Es ist schon in §. 835 enthalten, daß die Poesie die geistigste Kunst-
doch das lebendige phyſikaliſche Daſein des Kunſtwerks. Auch dieſe Be- §. 837. Die Kunſt iſt nun im eigentlichen Sinne ſprechend und damit erſt Es iſt ſchon in §. 835 enthalten, daß die Poeſie die geiſtigſte Kunſt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0030" n="1166"/> doch das lebendige phyſikaliſche Daſein des Kunſtwerks. Auch dieſe Be-<lb/> ſchränkung alſo fällt in der Poeſie weg. Genauer geſagt iſt es eigentlich<lb/> die Einbildungskraft des Vernehmenden, die der Dichter zur Phantaſie um-<lb/> zubilden hat, am richtigſten: die blos allgemeine Phantaſie (§. 379—383),<lb/> die er, ſo lange ſein Gedicht wirkt, zur beſondern, ſchöpferiſchen emporheben<lb/> ſoll. Der Dichter arbeitet alſo mit Phantaſie in Phantaſie, er baut, er<lb/> modellirt und meiſelt, zeichnet, malt, ſtimmt wie der Muſiker in der innerlich<lb/> geſetzten ganzen Sinnlichkeit ſeines Hörers oder Leſers. In gewiſſem Sinne<lb/> gilt ſelbſt von dieſem Materiale der Satz, daß alles Kunſtmaterial roher<lb/> und todter Stoff ſein muß (vergl. §. 490): roh und todt iſt die empfangende<lb/> Phantaſie <hi rendition="#g">in dieſem Verhältniß</hi>, d. h. ſie hat nach der Seite, in<lb/> Beziehung auf den Gegenſtand, den jetzt der Dichter bearbeitet, nicht ſelbſt<lb/> vorher etwas wirklich Schönes bilden können; auch ihre Thätigkeit in<lb/> Mythus und Sage iſt verglichen mit dem Kunſtwerke noch formlos, roher,<lb/> todter Stoff. Obwohl Geiſt iſt alſo der Geiſt des Empfangenden doch in<lb/> dieſer Beziehung widerſtandsloſes Wachs, das erſt zu kneten iſt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 837.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die Kunſt iſt nun im eigentlichen Sinne <hi rendition="#g">ſprechend</hi> und damit erſt<lb/> eigentlich <hi rendition="#g">klar</hi> geworden; denn durch die Sprache wird aller Inhalt an das<lb/><hi rendition="#g">Bewußtſein</hi> geknüpft. Mit dem <hi rendition="#g">vollen</hi> Scheine iſt nun erſt der <hi rendition="#g">reine</hi><lb/> Schein gewonnen; hiedurch vollendet ſich der ſchon in der Auffaſſungsweiſe<lb/> begründete Charakter der Geiſtigkeit (§. 835), wodurch die Poeſie von allen<lb/> andern Künſten ſich unterſcheidet; ſie verzehrt tiefer und inniger, als die andern,<lb/> alles Stoffartige, ſteht im vollſten Sinne des Worts auf dem Boden der <hi rendition="#g">Idee</hi><lb/> und trägt den Charakter der Unendlichkeit und der Totalität, vermöge der ſie<lb/> in jedem Bilde ein Weltbild gibt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Es iſt ſchon in §. 835 enthalten, daß die Poeſie die geiſtigſte Kunſt-<lb/> form iſt; der Satz blieb aber noch unentwickelt, das Prädicat der beſondern<lb/> Geiſtigkeit wurde zunächſt in der Auffaſſungsweiſe gefunden, es erhält ſeinen<lb/> vollen Sinn erſt, wenn dieſe auch in die Darſtellungsweiſe verfolgt wird. —<lb/> Von jeder Kunſtform galt es, daß ſie gewiſſermaaßen ſprechend ſei, der Muſik<lb/> iſt die Zunge gelöst, aber ihr fehlt der abſchließende, Wort und Begriff<lb/> bildende Conſonant, die Dichtkunſt erſt iſt <hi rendition="#g">eigentlich</hi> ſprechend, erſt dem<lb/> Dichter „hat ein Gott gegeben, zu <hi rendition="#g">ſagen</hi>, was er leidet.“ In dieſer<lb/> allereinfachſten Beſtimmung liegt eine Welt. Wir faſſen dieſelbe zunächſt<lb/> nur an ihren Hauptpuncten. Im vorh. §. ſind wir von der Beſtimmung,<lb/> daß die Sprache dem <hi rendition="#g">Bewußtſein</hi> einen beſtimmten Gegenſtand, dem<lb/> Denken einen Begriff gibt, alsbald fortgeeilt zu der andern, daß es ſich<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1166/0030]
doch das lebendige phyſikaliſche Daſein des Kunſtwerks. Auch dieſe Be-
ſchränkung alſo fällt in der Poeſie weg. Genauer geſagt iſt es eigentlich
die Einbildungskraft des Vernehmenden, die der Dichter zur Phantaſie um-
zubilden hat, am richtigſten: die blos allgemeine Phantaſie (§. 379—383),
die er, ſo lange ſein Gedicht wirkt, zur beſondern, ſchöpferiſchen emporheben
ſoll. Der Dichter arbeitet alſo mit Phantaſie in Phantaſie, er baut, er
modellirt und meiſelt, zeichnet, malt, ſtimmt wie der Muſiker in der innerlich
geſetzten ganzen Sinnlichkeit ſeines Hörers oder Leſers. In gewiſſem Sinne
gilt ſelbſt von dieſem Materiale der Satz, daß alles Kunſtmaterial roher
und todter Stoff ſein muß (vergl. §. 490): roh und todt iſt die empfangende
Phantaſie in dieſem Verhältniß, d. h. ſie hat nach der Seite, in
Beziehung auf den Gegenſtand, den jetzt der Dichter bearbeitet, nicht ſelbſt
vorher etwas wirklich Schönes bilden können; auch ihre Thätigkeit in
Mythus und Sage iſt verglichen mit dem Kunſtwerke noch formlos, roher,
todter Stoff. Obwohl Geiſt iſt alſo der Geiſt des Empfangenden doch in
dieſer Beziehung widerſtandsloſes Wachs, das erſt zu kneten iſt.
§. 837.
Die Kunſt iſt nun im eigentlichen Sinne ſprechend und damit erſt
eigentlich klar geworden; denn durch die Sprache wird aller Inhalt an das
Bewußtſein geknüpft. Mit dem vollen Scheine iſt nun erſt der reine
Schein gewonnen; hiedurch vollendet ſich der ſchon in der Auffaſſungsweiſe
begründete Charakter der Geiſtigkeit (§. 835), wodurch die Poeſie von allen
andern Künſten ſich unterſcheidet; ſie verzehrt tiefer und inniger, als die andern,
alles Stoffartige, ſteht im vollſten Sinne des Worts auf dem Boden der Idee
und trägt den Charakter der Unendlichkeit und der Totalität, vermöge der ſie
in jedem Bilde ein Weltbild gibt.
Es iſt ſchon in §. 835 enthalten, daß die Poeſie die geiſtigſte Kunſt-
form iſt; der Satz blieb aber noch unentwickelt, das Prädicat der beſondern
Geiſtigkeit wurde zunächſt in der Auffaſſungsweiſe gefunden, es erhält ſeinen
vollen Sinn erſt, wenn dieſe auch in die Darſtellungsweiſe verfolgt wird. —
Von jeder Kunſtform galt es, daß ſie gewiſſermaaßen ſprechend ſei, der Muſik
iſt die Zunge gelöst, aber ihr fehlt der abſchließende, Wort und Begriff
bildende Conſonant, die Dichtkunſt erſt iſt eigentlich ſprechend, erſt dem
Dichter „hat ein Gott gegeben, zu ſagen, was er leidet.“ In dieſer
allereinfachſten Beſtimmung liegt eine Welt. Wir faſſen dieſelbe zunächſt
nur an ihren Hauptpuncten. Im vorh. §. ſind wir von der Beſtimmung,
daß die Sprache dem Bewußtſein einen beſtimmten Gegenſtand, dem
Denken einen Begriff gibt, alsbald fortgeeilt zu der andern, daß es ſich
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