das Drama ursprünglich vermeintliche Geschichte, absolute Geschichte, Glau- bensgehalt als Thatsache dargestellt und das moderne Schauspiel ist aus den Mysterien, wie das antike aus den Dionysischen Fest-Aufführungen, hervor- gegangen; die geistlichen Dramen der entwickelten Kunstpoesie aber, wie sie eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht haben, weben zwar den christlichen Mythus in menschliches Leben, Schuld und Schicksal ein, entziehen aber diesem die rein menschliche Wahrheit und Sympathie und sind wirklich Nachkommen der Mysterien bei einem bigotten Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poesie als ächte, des Bleibens werthe Formen finden können. Wir haben sie bereits als Spezialitäten bezeich- net. -- Eigentlich könnten wir nun zu der elementarischen, großartig unbe- fangenen Lehrpoesie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunstdichtung überlieferte Gnomische, alle poetisch vorgetragene, noch immer an den religiösen Glauben geknüpfte ethische Wahrheit ziehen: einen Theil der sogenannten Orphischen Poesie, die Sprüche der sieben Weisen, das entsprechende Orien- talische, wie es in poetischer Spruchform sich durch die Religionsbücher der Inder und Perser zieht, älteste deutsche Spruchweisheit; allein wo immer Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche Thatsache vorgetragen wird, ist die wirkliche Scheidung von Idee und Bild vorhanden und spricht sich denn auch in der Zerstücklung des Vorgetragenen, der Einzelheit der Sätze aus.
2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen und Mischungsformen zwischen den beiden Enden: der organisch bildenden Phantasie und dem die ästhetischen Elemente nur äußerlich verknüpfenden Verfahren gibt. Die didaktische Poesie geht immer vom geistigen Inhalt aus und von da erst zum Bilde fort; sie unterscheidet sich von der satyri- schen dadurch, daß sie zwar voraussetzt, das Leben entspreche noch nicht dem, was es sein soll, der Idee, aber es bei der bloßen Voraussetzung beläßt, nicht die Anschauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt. Es fehlt ihr daher die Leidenschaft, welche die Phantasie zu jenem negativen, komischen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen Seite belebt sich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueber- zeugung und Gesinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein Anschauungsbild an die Idee, welche den Lehrgehalt bildet, anschießen und innig damit zusammenwachsen, so daß die Lehre als das posterius erscheint, das nur so von selbst aus der Anschauung hervorspringt. Dieß liegt denn am reinsten vor in den Formen, die sich an die epische Dichtung anschlie- ßen. Das Beispiel (nicht im mittelhochdeutschen Sinne, wo es Fabel und jede didaktische Erzählung bedeutet, sondern im gewöhnlichen modernen Sprach- gebrauche verstanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine Erscheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin diese Wahrheit real
das Drama urſprünglich vermeintliche Geſchichte, abſolute Geſchichte, Glau- bensgehalt als Thatſache dargeſtellt und das moderne Schauſpiel iſt aus den Myſterien, wie das antike aus den Dionyſiſchen Feſt-Aufführungen, hervor- gegangen; die geiſtlichen Dramen der entwickelten Kunſtpoeſie aber, wie ſie eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht haben, weben zwar den chriſtlichen Mythus in menſchliches Leben, Schuld und Schickſal ein, entziehen aber dieſem die rein menſchliche Wahrheit und Sympathie und ſind wirklich Nachkommen der Myſterien bei einem bigotten Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poeſie als ächte, des Bleibens werthe Formen finden können. Wir haben ſie bereits als Spezialitäten bezeich- net. — Eigentlich könnten wir nun zu der elementariſchen, großartig unbe- fangenen Lehrpoeſie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunſtdichtung überlieferte Gnomiſche, alle poetiſch vorgetragene, noch immer an den religiöſen Glauben geknüpfte ethiſche Wahrheit ziehen: einen Theil der ſogenannten Orphiſchen Poeſie, die Sprüche der ſieben Weiſen, das entſprechende Orien- taliſche, wie es in poetiſcher Spruchform ſich durch die Religionsbücher der Inder und Perſer zieht, älteſte deutſche Spruchweisheit; allein wo immer Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche Thatſache vorgetragen wird, iſt die wirkliche Scheidung von Idee und Bild vorhanden und ſpricht ſich denn auch in der Zerſtücklung des Vorgetragenen, der Einzelheit der Sätze aus.
2. Wir haben ſchon bei der Satyre geſagt, daß es mancherlei Stufen und Miſchungsformen zwiſchen den beiden Enden: der organiſch bildenden Phantaſie und dem die äſthetiſchen Elemente nur äußerlich verknüpfenden Verfahren gibt. Die didaktiſche Poeſie geht immer vom geiſtigen Inhalt aus und von da erſt zum Bilde fort; ſie unterſcheidet ſich von der ſatyri- ſchen dadurch, daß ſie zwar vorausſetzt, das Leben entſpreche noch nicht dem, was es ſein ſoll, der Idee, aber es bei der bloßen Vorausſetzung beläßt, nicht die Anſchauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt. Es fehlt ihr daher die Leidenſchaft, welche die Phantaſie zu jenem negativen, komiſchen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen Seite belebt ſich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueber- zeugung und Geſinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein Anſchauungsbild an die Idee, welche den Lehrgehalt bildet, anſchießen und innig damit zuſammenwachſen, ſo daß die Lehre als das posterius erſcheint, das nur ſo von ſelbſt aus der Anſchauung hervorſpringt. Dieß liegt denn am reinſten vor in den Formen, die ſich an die epiſche Dichtung anſchlie- ßen. Das Beiſpiel (nicht im mittelhochdeutſchen Sinne, wo es Fabel und jede didaktiſche Erzählung bedeutet, ſondern im gewöhnlichen modernen Sprach- gebrauche verſtanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine Erſcheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin dieſe Wahrheit real
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[1464/0328]
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Myſterien, wie das antike aus den Dionyſiſchen Feſt-Aufführungen, hervor-
gegangen; die geiſtlichen Dramen der entwickelten Kunſtpoeſie aber, wie ſie
eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht
haben, weben zwar den chriſtlichen Mythus in menſchliches Leben, Schuld
und Schickſal ein, entziehen aber dieſem die rein menſchliche Wahrheit und
Sympathie und ſind wirklich Nachkommen der Myſterien bei einem bigotten
Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poeſie als ächte, des Bleibens
werthe Formen finden können. Wir haben ſie bereits als Spezialitäten bezeich-
net. — Eigentlich könnten wir nun zu der elementariſchen, großartig unbe-
fangenen Lehrpoeſie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunſtdichtung
überlieferte Gnomiſche, alle poetiſch vorgetragene, noch immer an den religiöſen
Glauben geknüpfte ethiſche Wahrheit ziehen: einen Theil der ſogenannten
Orphiſchen Poeſie, die Sprüche der ſieben Weiſen, das entſprechende Orien-
taliſche, wie es in poetiſcher Spruchform ſich durch die Religionsbücher der
Inder und Perſer zieht, älteſte deutſche Spruchweisheit; allein wo immer
Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche
Thatſache vorgetragen wird, iſt die wirkliche Scheidung von Idee und Bild
vorhanden und ſpricht ſich denn auch in der Zerſtücklung des Vorgetragenen,
der Einzelheit der Sätze aus.
2. Wir haben ſchon bei der Satyre geſagt, daß es mancherlei Stufen
und Miſchungsformen zwiſchen den beiden Enden: der organiſch bildenden
Phantaſie und dem die äſthetiſchen Elemente nur äußerlich verknüpfenden
Verfahren gibt. Die didaktiſche Poeſie geht immer vom geiſtigen Inhalt
aus und von da erſt zum Bilde fort; ſie unterſcheidet ſich von der ſatyri-
ſchen dadurch, daß ſie zwar vorausſetzt, das Leben entſpreche noch nicht dem,
was es ſein ſoll, der Idee, aber es bei der bloßen Vorausſetzung beläßt,
nicht die Anſchauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt.
Es fehlt ihr daher die Leidenſchaft, welche die Phantaſie zu jenem negativen,
komiſchen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen
Seite belebt ſich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueber-
zeugung und Geſinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein
Anſchauungsbild an die Idee, welche den Lehrgehalt bildet, anſchießen und
innig damit zuſammenwachſen, ſo daß die Lehre als das posterius erſcheint,
das nur ſo von ſelbſt aus der Anſchauung hervorſpringt. Dieß liegt denn
am reinſten vor in den Formen, die ſich an die epiſche Dichtung anſchlie-
ßen. Das Beiſpiel (nicht im mittelhochdeutſchen Sinne, wo es Fabel und
jede didaktiſche Erzählung bedeutet, ſondern im gewöhnlichen modernen Sprach-
gebrauche verſtanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine
Erſcheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin dieſe Wahrheit real
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/328>, abgerufen am 21.11.2024.
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