herausgeht, wenn er sich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die Unsichtbarkeit bedeuten soll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den ungemeinen Größe-Verhältnissen der Göttergestalt in's Gedränge kommt, indem er ihr die übergroßen Dimensionen nicht geben kann, und er über- sieht nur, daß er das an sich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaß- stab relativ ist (§. 649, 2.), daß aber doch diese Freiheit nicht schrankenlos benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung so ungleicher Größenverhältnisse die Helden zu klein erschienen. Hier zeigt sich also, daß doch erst die Poesie auch in der Darstellung jeder Größe ganz frei sich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geister- leibes wächst für die Phantasie zu einer unendlichen an, dem äußern Auge ist sie begrenzt, richtiger: dem deutlich sehenden äußern Auge. Solches unbestimmtes Sehen kann nun der Maler schwer ausdrücken, denn so dämmernd und in Helldunkel verschwimmend er sein Object geben will, es hat doch zu viel Bestimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die Phantasie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch einen besondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 schon berührt wurde, wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern Bild eigen ist: er kann Handlungen so schildern, daß wir wissen, sie ge- schehen jetzt, daß sie uns aber zugleich verhüllt sind, im Dunkel vor sich gehen, oder so, daß Personen im Gedichte selbst darum wissen, sie aus andeutenden Zeichen errathen, sie sich vorstellen, aber ohne sie zu sehen. Hier ergeben sich denn dieselben ungeheuern Wirkungen, wie durch das halbdeutlich gesehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entscheidung liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt ist er d'ran! Der Maler mag wohl einen Lord Leicester darstellen, wie er verdammt ist, Moment für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart sich zu vergegen- wärtigen, man mag ihm den furchtbaren Vorgang in seinem Innern ansehen, aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch seine Mittel uns zwingt, mit Leicester aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungesehen von unserem physischen, wohl gesehen von unserem geistigen Auge vor sich geht! -- Das sind denn lauter Vortheile, die Lessing wohl berechtigten, (Laok. Abschn. 14) zu sagen: müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die Sphäre meines innern Auges sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung frei zu werden, einen großen Werth auf den Verlust des erstern legen.
Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoff- artigeren Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemischer Auflösung der Körper beruhen, in Wirkung setzen kann und darf, da er ja an die ganze innerlich gesetzte Sinnlichkeit sich wendet. Diese Sinne liegen allerdings schon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erst übergehen; ihre
herausgeht, wenn er ſich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die Unſichtbarkeit bedeuten ſoll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den ungemeinen Größe-Verhältniſſen der Göttergeſtalt in’s Gedränge kommt, indem er ihr die übergroßen Dimenſionen nicht geben kann, und er über- ſieht nur, daß er das an ſich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaß- ſtab relativ iſt (§. 649, 2.), daß aber doch dieſe Freiheit nicht ſchrankenlos benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung ſo ungleicher Größenverhältniſſe die Helden zu klein erſchienen. Hier zeigt ſich alſo, daß doch erſt die Poeſie auch in der Darſtellung jeder Größe ganz frei ſich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geiſter- leibes wächst für die Phantaſie zu einer unendlichen an, dem äußern Auge iſt ſie begrenzt, richtiger: dem deutlich ſehenden äußern Auge. Solches unbeſtimmtes Sehen kann nun der Maler ſchwer ausdrücken, denn ſo dämmernd und in Helldunkel verſchwimmend er ſein Object geben will, es hat doch zu viel Beſtimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die Phantaſie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch einen beſondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 ſchon berührt wurde, wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern Bild eigen iſt: er kann Handlungen ſo ſchildern, daß wir wiſſen, ſie ge- ſchehen jetzt, daß ſie uns aber zugleich verhüllt ſind, im Dunkel vor ſich gehen, oder ſo, daß Perſonen im Gedichte ſelbſt darum wiſſen, ſie aus andeutenden Zeichen errathen, ſie ſich vorſtellen, aber ohne ſie zu ſehen. Hier ergeben ſich denn dieſelben ungeheuern Wirkungen, wie durch das halbdeutlich geſehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entſcheidung liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt iſt er d’ran! Der Maler mag wohl einen Lord Leiceſter darſtellen, wie er verdammt iſt, Moment für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart ſich zu vergegen- wärtigen, man mag ihm den furchtbaren Vorgang in ſeinem Innern anſehen, aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch ſeine Mittel uns zwingt, mit Leiceſter aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungeſehen von unſerem phyſiſchen, wohl geſehen von unſerem geiſtigen Auge vor ſich geht! — Das ſind denn lauter Vortheile, die Leſſing wohl berechtigten, (Laok. Abſchn. 14) zu ſagen: müßte, ſo lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre deſſelben auch die Sphäre meines innern Auges ſein, ſo würde ich, um von dieſer Einſchränkung frei zu werden, einen großen Werth auf den Verluſt des erſtern legen.
Schließlich iſt nicht zu überſehen, daß der Dichter auch jene ſtoff- artigeren Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemiſcher Auflöſung der Körper beruhen, in Wirkung ſetzen kann und darf, da er ja an die ganze innerlich geſetzte Sinnlichkeit ſich wendet. Dieſe Sinne liegen allerdings ſchon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erſt übergehen; ihre
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[1174/0038]
herausgeht, wenn er ſich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die
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ungemeinen Größe-Verhältniſſen der Göttergeſtalt in’s Gedränge kommt,
indem er ihr die übergroßen Dimenſionen nicht geben kann, und er über-
ſieht nur, daß er das an ſich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaß-
ſtab relativ iſt (§. 649, 2.), daß aber doch dieſe Freiheit nicht ſchrankenlos
benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung
ſo ungleicher Größenverhältniſſe die Helden zu klein erſchienen. Hier
zeigt ſich alſo, daß doch erſt die Poeſie auch in der Darſtellung jeder Größe
ganz frei ſich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geiſter-
leibes wächst für die Phantaſie zu einer unendlichen an, dem äußern
Auge iſt ſie begrenzt, richtiger: dem deutlich ſehenden äußern Auge. Solches
unbeſtimmtes Sehen kann nun der Maler ſchwer ausdrücken, denn ſo dämmernd
und in Helldunkel verſchwimmend er ſein Object geben will, es hat doch zu
viel Beſtimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die
Phantaſie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch
einen beſondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 ſchon berührt wurde,
wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern
Bild eigen iſt: er kann Handlungen ſo ſchildern, daß wir wiſſen, ſie ge-
ſchehen jetzt, daß ſie uns aber zugleich verhüllt ſind, im Dunkel vor ſich
gehen, oder ſo, daß Perſonen im Gedichte ſelbſt darum wiſſen, ſie aus
andeutenden Zeichen errathen, ſie ſich vorſtellen, aber ohne ſie zu ſehen.
Hier ergeben ſich denn dieſelben ungeheuern Wirkungen, wie durch das
halbdeutlich geſehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entſcheidung
liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt iſt er d’ran! Der Maler
mag wohl einen Lord Leiceſter darſtellen, wie er verdammt iſt, Moment
für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart ſich zu vergegen-
wärtigen, man mag ihm den furchtbaren Vorgang in ſeinem Innern anſehen,
aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch ſeine Mittel
uns zwingt, mit Leiceſter aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns
das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungeſehen von unſerem phyſiſchen,
wohl geſehen von unſerem geiſtigen Auge vor ſich geht! — Das ſind denn
lauter Vortheile, die Leſſing wohl berechtigten, (Laok. Abſchn. 14) zu ſagen:
müßte, ſo lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre deſſelben auch die
Sphäre meines innern Auges ſein, ſo würde ich, um von dieſer Einſchränkung
frei zu werden, einen großen Werth auf den Verluſt des erſtern legen.
Schließlich iſt nicht zu überſehen, daß der Dichter auch jene ſtoff-
artigeren Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemiſcher Auflöſung der
Körper beruhen, in Wirkung ſetzen kann und darf, da er ja an die ganze
innerlich geſetzte Sinnlichkeit ſich wendet. Dieſe Sinne liegen allerdings
ſchon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erſt übergehen; ihre
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/38>, abgerufen am 23.11.2024.
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