Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.b. Die einzelnen Momente. §. 846. 1. In der Poesie kommt zuerst das Stylgesetz in Betracht, weil unabhängig 1. Wollte man in der speziellen Erörterung des Wesens der Poesie β. Die einzelnen Momente. §. 846. 1. In der Poeſie kommt zuerſt das Stylgeſetz in Betracht, weil unabhängig 1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0060" n="1196"/> <div n="3"> <head><hi rendition="#i">β</hi>. Die einzelnen Momente.</head><lb/> <div n="4"> <head>§. 846.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">In der Poeſie kommt zuerſt das <hi rendition="#g">Stylgeſetz</hi> in Betracht, weil unabhängig<lb/> von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf-<lb/> faſſung ausgeht und nur an die Geſetze gebunden iſt, die ſich aus dem Weſen<lb/><note place="left">2.</note>der Phantaſie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erſte Beſtimmung<lb/> dieſes Geſetzes iſt negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern<lb/> Künſte gerichtet, welche der Poeſie dadurch nahe liegt, daß in gewiſſem Sinne<lb/> dieſe in ihr vereinigt ſind. Die Poeſie vergeht ſich in die <hi rendition="#g">Muſik</hi>, wenn ſie<lb/> geſtaltlos im unbeſtimmten Weben der ſubjectiven Empfindung ſich bewegt oder<lb/> wenn ſie die Technik der künſtleriſchen Sprachform zu ihrem hauptſächlichen<lb/> Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie<lb/> vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunſt ausgehen, ſo geriethe man<lb/> in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und weſentlichen Gegenſatz in<lb/> der muſikaliſchen Behandlung der Sprache, der in der claſſiſchen und roman-<lb/> tiſchen Form gegeben iſt, darſtellen müßte, ehe man ſeinen innern Grund,<lb/> den Unterſchied der ganzen Gefühls- und Auffaſſungsweiſe, in’s Licht geſetzt<lb/> hätte. Die Betrachtung dieſes hiſtoriſchen Unterſchieds gehört aber allerdings<lb/> in den gegenwärtigen Abſchnitt, er kann nebſt allem Hiſtoriſchen nicht in<lb/> einen beſondern geſchichtlichen Theil verwieſen werden, denn die Trennung<lb/> des Geſchichtlichen vom Syſtematiſchen iſt überhaupt in der Lehre von der<lb/> Dichtkunſt nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künſten, möglich.<lb/> Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier<lb/> aus der Darſtellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterſchiede,<lb/> welche durch die Geſchichte der Poeſie in ihnen ausgebildet worden ſind, einem<lb/> beſondern Abſchnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich iſt, welche<lb/> ſchleppende Wiederholung entſtünde. Ebenſo erhellt von ſelbſt, daß die Art<lb/> der poetiſchen Darſtellung, wie ſie in ihrem Unterſchiede von der proſaiſchen<lb/> demnächſt zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl-<lb/> geſetzes ſchon vorausſetzt, denn eine weſentliche Verſchiedenheit des Weges,<lb/> den das dichteriſche Verfahren in dieſer Beziehung einſchlägt, hat ihren<lb/> Grund ebenfalls in jenem Gegenſatze der ganzen Auffaſſungsweiſe, der an<lb/> ſich im Stylprinzip eingeſchloſſen iſt. Dieß iſt der negative Beweis für<lb/> die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelſtänden, die ſich im andern<lb/> Fall ergäben; der poſitive liegt darin, daß die Poeſie kein eigentliches Ma-<lb/> terial mehr hat. Das Verfahren dieſer Kunſt iſt nicht, wie bei den andern<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1196/0060]
β. Die einzelnen Momente.
§. 846.
In der Poeſie kommt zuerſt das Stylgeſetz in Betracht, weil unabhängig
von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf-
faſſung ausgeht und nur an die Geſetze gebunden iſt, die ſich aus dem Weſen
der Phantaſie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erſte Beſtimmung
dieſes Geſetzes iſt negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern
Künſte gerichtet, welche der Poeſie dadurch nahe liegt, daß in gewiſſem Sinne
dieſe in ihr vereinigt ſind. Die Poeſie vergeht ſich in die Muſik, wenn ſie
geſtaltlos im unbeſtimmten Weben der ſubjectiven Empfindung ſich bewegt oder
wenn ſie die Technik der künſtleriſchen Sprachform zu ihrem hauptſächlichen
Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.
1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie
vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunſt ausgehen, ſo geriethe man
in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und weſentlichen Gegenſatz in
der muſikaliſchen Behandlung der Sprache, der in der claſſiſchen und roman-
tiſchen Form gegeben iſt, darſtellen müßte, ehe man ſeinen innern Grund,
den Unterſchied der ganzen Gefühls- und Auffaſſungsweiſe, in’s Licht geſetzt
hätte. Die Betrachtung dieſes hiſtoriſchen Unterſchieds gehört aber allerdings
in den gegenwärtigen Abſchnitt, er kann nebſt allem Hiſtoriſchen nicht in
einen beſondern geſchichtlichen Theil verwieſen werden, denn die Trennung
des Geſchichtlichen vom Syſtematiſchen iſt überhaupt in der Lehre von der
Dichtkunſt nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künſten, möglich.
Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier
aus der Darſtellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterſchiede,
welche durch die Geſchichte der Poeſie in ihnen ausgebildet worden ſind, einem
beſondern Abſchnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich iſt, welche
ſchleppende Wiederholung entſtünde. Ebenſo erhellt von ſelbſt, daß die Art
der poetiſchen Darſtellung, wie ſie in ihrem Unterſchiede von der proſaiſchen
demnächſt zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl-
geſetzes ſchon vorausſetzt, denn eine weſentliche Verſchiedenheit des Weges,
den das dichteriſche Verfahren in dieſer Beziehung einſchlägt, hat ihren
Grund ebenfalls in jenem Gegenſatze der ganzen Auffaſſungsweiſe, der an
ſich im Stylprinzip eingeſchloſſen iſt. Dieß iſt der negative Beweis für
die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelſtänden, die ſich im andern
Fall ergäben; der poſitive liegt darin, daß die Poeſie kein eigentliches Ma-
terial mehr hat. Das Verfahren dieſer Kunſt iſt nicht, wie bei den andern
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