hinreicht, um die Phantasie zur Erzeugung eines innern Bildes zu bestimmen. Der Dichter sage uns also von dem Aeußern einer Person, die er einführt, zuerst gar nichts, oder nur ein Wort: schön, schlank, einfach oder reich gekleidet, bewaffnet u. s. w. Nun setze er sie in Handlung und im Zuge der Handlung nehme er, wie in raschem Vorübergleiten pflückend, einen Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, schüttelte er die braunen, die blonden Locken, schlug er die Toga auseinander, hob er das lange Schwert u. s. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu bestimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen; eine Berichtigung, Ergänzung des auf den ersten Zug rasch geschaffenen Bildes stört ihn nicht, sondern nur eine Zumuthung, langsam und in's Kleinste hinein gezwungen vorzustellen. -- J. Paul gibt (a. a. O. §. 79) noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h. indem er eine Gestalt zuerst verhüllt, als eine durch äußere Hindernisse verdeckte einführt, was die Phantasie doppelt stark reizt, sie sich vorzustellen, und sie dann erst aufdeckt; ferner durch Contrast der Farben oder Verhältnisse: wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darstellen, so heben die Contraste stärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtschaftsfarben. Diese Kunst- mittel subsumiren sich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im all- gemeinsten Sinn und haben sich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden, die den Gegenstand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens und der Handlung hineinzieht.
Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt, sondern ein tieferer Blick in das Wesen der Dichtkunst gewonnen. In §. 842 ist die höchste Kraft und Bestimmung derselben ausgesprochen: Offenbarung der innern Welt, die sich in der Handlung zusammenfaßt; es ist gesagt, daß hier alles Aeußere in das Innere mündet und aus ihm hervorströmt. Dadurch tritt der Inhalt des §. 842 mit dem des §. 838 in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden Kunst auf dem geistigen Boden der Dichtkunst ist nun in erfüllten Zusam- menhang gesetzt mit ihrer eigensten Aufgabe, die innere Welt zu erschließen. -- Sieht man auf die Person des Dichters und den innern Prozeß seiner Thätigkeit zurück, so begreift man, wie ihm sein eigenes Vorfühlen der innern Zustände, die er schildert, mit dem Schauen der Gestalten, welche deren Träger sein sollen, zu einer lebendigen Einheit so zusammenwachsen wird, daß er sie wohl unwillkürlich sogar mimisch sich vorspielt; daher sagt Aristoteles (Poetik 17), der Dichter müsse bei der Versetzung in die Leiden- schaften seiner inneren Bewegung selbst mit der Gebärde folgen.
hinreicht, um die Phantaſie zur Erzeugung eines innern Bildes zu beſtimmen. Der Dichter ſage uns alſo von dem Aeußern einer Perſon, die er einführt, zuerſt gar nichts, oder nur ein Wort: ſchön, ſchlank, einfach oder reich gekleidet, bewaffnet u. ſ. w. Nun ſetze er ſie in Handlung und im Zuge der Handlung nehme er, wie in raſchem Vorübergleiten pflückend, einen Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, ſchüttelte er die braunen, die blonden Locken, ſchlug er die Toga auseinander, hob er das lange Schwert u. ſ. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu beſtimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen; eine Berichtigung, Ergänzung des auf den erſten Zug raſch geſchaffenen Bildes ſtört ihn nicht, ſondern nur eine Zumuthung, langſam und in’s Kleinſte hinein gezwungen vorzuſtellen. — J. Paul gibt (a. a. O. §. 79) noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h. indem er eine Geſtalt zuerſt verhüllt, als eine durch äußere Hinderniſſe verdeckte einführt, was die Phantaſie doppelt ſtark reizt, ſie ſich vorzuſtellen, und ſie dann erſt aufdeckt; ferner durch Contraſt der Farben oder Verhältniſſe: wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darſtellen, ſo heben die Contraſte ſtärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtſchaftsfarben. Dieſe Kunſt- mittel ſubſumiren ſich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im all- gemeinſten Sinn und haben ſich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden, die den Gegenſtand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens und der Handlung hineinzieht.
Hiemit iſt nun aber nicht nur eine poetiſche Stylregel aufgeſtellt, ſondern ein tieferer Blick in das Weſen der Dichtkunſt gewonnen. In §. 842 iſt die höchſte Kraft und Beſtimmung derſelben ausgeſprochen: Offenbarung der innern Welt, die ſich in der Handlung zuſammenfaßt; es iſt geſagt, daß hier alles Aeußere in das Innere mündet und aus ihm hervorſtrömt. Dadurch tritt der Inhalt des §. 842 mit dem des §. 838 in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden Kunſt auf dem geiſtigen Boden der Dichtkunſt iſt nun in erfüllten Zuſam- menhang geſetzt mit ihrer eigenſten Aufgabe, die innere Welt zu erſchließen. — Sieht man auf die Perſon des Dichters und den innern Prozeß ſeiner Thätigkeit zurück, ſo begreift man, wie ihm ſein eigenes Vorfühlen der innern Zuſtände, die er ſchildert, mit dem Schauen der Geſtalten, welche deren Träger ſein ſollen, zu einer lebendigen Einheit ſo zuſammenwachſen wird, daß er ſie wohl unwillkürlich ſogar mimiſch ſich vorſpielt; daher ſagt Ariſtoteles (Poetik 17), der Dichter müſſe bei der Verſetzung in die Leiden- ſchaften ſeiner inneren Bewegung ſelbſt mit der Gebärde folgen.
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[1204/0068]
hinreicht, um die Phantaſie zur Erzeugung eines innern Bildes zu beſtimmen.
Der Dichter ſage uns alſo von dem Aeußern einer Perſon, die er einführt,
zuerſt gar nichts, oder nur ein Wort: ſchön, ſchlank, einfach oder reich
gekleidet, bewaffnet u. ſ. w. Nun ſetze er ſie in Handlung und im Zuge
der Handlung nehme er, wie in raſchem Vorübergleiten pflückend, einen
Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, ſchüttelte er die
braunen, die blonden Locken, ſchlug er die Toga auseinander, hob er das
lange Schwert u. ſ. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu
beſtimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen;
eine Berichtigung, Ergänzung des auf den erſten Zug raſch geſchaffenen
Bildes ſtört ihn nicht, ſondern nur eine Zumuthung, langſam und in’s
Kleinſte hinein gezwungen vorzuſtellen. — J. Paul gibt (a. a. O. §. 79)
noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h.
indem er eine Geſtalt zuerſt verhüllt, als eine durch äußere Hinderniſſe
verdeckte einführt, was die Phantaſie doppelt ſtark reizt, ſie ſich vorzuſtellen,
und ſie dann erſt aufdeckt; ferner durch Contraſt der Farben oder Verhältniſſe:
wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darſtellen, ſo heben die Contraſte
ſtärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtſchaftsfarben. Dieſe Kunſt-
mittel ſubſumiren ſich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im all-
gemeinſten Sinn und haben ſich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden,
die den Gegenſtand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens
und der Handlung hineinzieht.
Hiemit iſt nun aber nicht nur eine poetiſche Stylregel aufgeſtellt,
ſondern ein tieferer Blick in das Weſen der Dichtkunſt gewonnen. In
§. 842 iſt die höchſte Kraft und Beſtimmung derſelben ausgeſprochen:
Offenbarung der innern Welt, die ſich in der Handlung zuſammenfaßt;
es iſt geſagt, daß hier alles Aeußere in das Innere mündet und aus ihm
hervorſtrömt. Dadurch tritt der Inhalt des §. 842 mit dem des §. 838
in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden
Kunſt auf dem geiſtigen Boden der Dichtkunſt iſt nun in erfüllten Zuſam-
menhang geſetzt mit ihrer eigenſten Aufgabe, die innere Welt zu erſchließen.
— Sieht man auf die Perſon des Dichters und den innern Prozeß ſeiner
Thätigkeit zurück, ſo begreift man, wie ihm ſein eigenes Vorfühlen der
innern Zuſtände, die er ſchildert, mit dem Schauen der Geſtalten, welche
deren Träger ſein ſollen, zu einer lebendigen Einheit ſo zuſammenwachſen
wird, daß er ſie wohl unwillkürlich ſogar mimiſch ſich vorſpielt; daher ſagt
Ariſtoteles (Poetik 17), der Dichter müſſe bei der Verſetzung in die Leiden-
ſchaften ſeiner inneren Bewegung ſelbſt mit der Gebärde folgen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/68>, abgerufen am 21.11.2024.
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