dacht werden könne, sei idealisch. Es verhält sich aber so gewiß umgekehrt, daß nur zu fragen ist, wie Humboldt zur der schiefen Aufstellung gekommen sei. Nicht die Wirklichkeit schlechthin stellt ihre Individuen wie selbständige Erscheinungen auf, sondern so werden sie aufgefaßt von der Anschauung, und es ist gerade die idealisirende Kunst, welche an der letztern unmittel- bar fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verstand geht hinter die An- schauung zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen her- ausgreift, stellt sie durch Schlüsse nach den Kategorieen der Causalität, des Mittels und Zweckes u. s. w. in den Zusammenhang allseitiger Be- dingtheit, und dieß ist die Prosa, welche in Wahrheit eben das gemein wirkliche Verhältniß begreift. Die Prosa kennt nicht den Schein, als ob ein Individuum absolut sei, das Einzelne ist ihr nie eine Totalität, sie steigt als Philosophie zu der Idee einer Totalität auf, welche im ganzen Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allseitigen Ver- mittlung und Wechsel-Ergänzung alles Einzelnen real ist; diese Totalität nennt man im speculativen Sinne concret, das Individuum ist in ihr als lebendiges Glied des Ganzen gesetzt, aber sie ist nicht concret in dem Sinne, daß das Individuum in ihr mangellos seine Gattung und durch sie das Weltall in sich darstellte. Dieser Betrachtung gegenüber ist das Einzelne auf dem Standpuncte der Prosa immer todt, und zwar ohne Unterschied der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Prosa liest das Allgemeine aus seinen Individuen zusammen, die Poesie hat es im Individuum. Jene Fäden der Causalität, welche vom Individuum fortleiten in den unendlichen Progreß des Einzelnen, schneidet die Poesie gerade durch, während die Prosa sie verfolgt. Man sieht aber, wie W. Humboldt bei seiner übrigens so richtigen Idee vom Schönen auf den falschen Begriff gekommen ist. Er bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantasie als einen Theil der Vernunft- thätigkeit, deren Aufgabe es ist, Alles im Zusammenhang zu fassen, zu Einheiten und endlich zur höchsten Einheit zu verbinden. Die Phantasie ist nun wohl eine der Formen des absoluten Geistes, in ihrem Verfahren aber von den übrigen Formen dieser höchsten Sphäre gerade dadurch ver- schieden, daß sie die Sinnlichkeit in sie heraufnimmt und die höchste Einheit in das sinnlich Eine legt, und eben dieser Unterschied war hier zu betonen. Ferner erkennt Humboldt als wesentlichen Grundzug des Schönen die Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, diese müsse dadurch bewerkstelligt werden, daß die Dinge in ihrem allseitigen Zusammenhang nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf diese Weise tilgt eben nur die Prosa den rohen Begriff des Zufalls, indem sie zeigt, daß das, was eine jeweilig gegebene Linie anscheinend irrationell durchkreuzt, vielmehr nur eine Folge davon ist, daß das Ganze des Lebens ein System von Linien bildet, die sich nach allen Seiten unberechenbar schneiden; nicht
dacht werden könne, ſei idealiſch. Es verhält ſich aber ſo gewiß umgekehrt, daß nur zu fragen iſt, wie Humboldt zur der ſchiefen Aufſtellung gekommen ſei. Nicht die Wirklichkeit ſchlechthin ſtellt ihre Individuen wie ſelbſtändige Erſcheinungen auf, ſondern ſo werden ſie aufgefaßt von der Anſchauung, und es iſt gerade die idealiſirende Kunſt, welche an der letztern unmittel- bar fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verſtand geht hinter die An- ſchauung zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen her- ausgreift, ſtellt ſie durch Schlüſſe nach den Kategorieen der Cauſalität, des Mittels und Zweckes u. ſ. w. in den Zuſammenhang allſeitiger Be- dingtheit, und dieß iſt die Proſa, welche in Wahrheit eben das gemein wirkliche Verhältniß begreift. Die Proſa kennt nicht den Schein, als ob ein Individuum abſolut ſei, das Einzelne iſt ihr nie eine Totalität, ſie ſteigt als Philoſophie zu der Idee einer Totalität auf, welche im ganzen Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allſeitigen Ver- mittlung und Wechſel-Ergänzung alles Einzelnen real iſt; dieſe Totalität nennt man im ſpeculativen Sinne concret, das Individuum iſt in ihr als lebendiges Glied des Ganzen geſetzt, aber ſie iſt nicht concret in dem Sinne, daß das Individuum in ihr mangellos ſeine Gattung und durch ſie das Weltall in ſich darſtellte. Dieſer Betrachtung gegenüber iſt das Einzelne auf dem Standpuncte der Proſa immer todt, und zwar ohne Unterſchied der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Proſa liest das Allgemeine aus ſeinen Individuen zuſammen, die Poeſie hat es im Individuum. Jene Fäden der Cauſalität, welche vom Individuum fortleiten in den unendlichen Progreß des Einzelnen, ſchneidet die Poeſie gerade durch, während die Proſa ſie verfolgt. Man ſieht aber, wie W. Humboldt bei ſeiner übrigens ſo richtigen Idee vom Schönen auf den falſchen Begriff gekommen iſt. Er bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantaſie als einen Theil der Vernunft- thätigkeit, deren Aufgabe es iſt, Alles im Zuſammenhang zu faſſen, zu Einheiten und endlich zur höchſten Einheit zu verbinden. Die Phantaſie iſt nun wohl eine der Formen des abſoluten Geiſtes, in ihrem Verfahren aber von den übrigen Formen dieſer höchſten Sphäre gerade dadurch ver- ſchieden, daß ſie die Sinnlichkeit in ſie heraufnimmt und die höchſte Einheit in das ſinnlich Eine legt, und eben dieſer Unterſchied war hier zu betonen. Ferner erkennt Humboldt als weſentlichen Grundzug des Schönen die Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, dieſe müſſe dadurch bewerkſtelligt werden, daß die Dinge in ihrem allſeitigen Zuſammenhang nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf dieſe Weiſe tilgt eben nur die Proſa den rohen Begriff des Zufalls, indem ſie zeigt, daß das, was eine jeweilig gegebene Linie anſcheinend irrationell durchkreuzt, vielmehr nur eine Folge davon iſt, daß das Ganze des Lebens ein Syſtem von Linien bildet, die ſich nach allen Seiten unberechenbar ſchneiden; nicht
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[1206/0070]
dacht werden könne, ſei idealiſch. Es verhält ſich aber ſo gewiß umgekehrt,
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und es iſt gerade die idealiſirende Kunſt, welche an der letztern unmittel-
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ſchauung zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen her-
ausgreift, ſtellt ſie durch Schlüſſe nach den Kategorieen der Cauſalität,
des Mittels und Zweckes u. ſ. w. in den Zuſammenhang allſeitiger Be-
dingtheit, und dieß iſt die Proſa, welche in Wahrheit eben das gemein
wirkliche Verhältniß begreift. Die Proſa kennt nicht den Schein, als ob
ein Individuum abſolut ſei, das Einzelne iſt ihr nie eine Totalität,
ſie ſteigt als Philoſophie zu der Idee einer Totalität auf, welche im ganzen
Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allſeitigen Ver-
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nennt man im ſpeculativen Sinne concret, das Individuum iſt in ihr als
lebendiges Glied des Ganzen geſetzt, aber ſie iſt nicht concret in dem Sinne,
daß das Individuum in ihr mangellos ſeine Gattung und durch ſie das
Weltall in ſich darſtellte. Dieſer Betrachtung gegenüber iſt das Einzelne
auf dem Standpuncte der Proſa immer todt, und zwar ohne Unterſchied
der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Proſa liest das Allgemeine aus
ſeinen Individuen zuſammen, die Poeſie hat es im Individuum. Jene
Fäden der Cauſalität, welche vom Individuum fortleiten in den unendlichen
Progreß des Einzelnen, ſchneidet die Poeſie gerade durch, während die Proſa
ſie verfolgt. Man ſieht aber, wie W. Humboldt bei ſeiner übrigens ſo
richtigen Idee vom Schönen auf den falſchen Begriff gekommen iſt. Er
bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantaſie als einen Theil der Vernunft-
thätigkeit, deren Aufgabe es iſt, Alles im Zuſammenhang zu faſſen, zu
Einheiten und endlich zur höchſten Einheit zu verbinden. Die Phantaſie
iſt nun wohl eine der Formen des abſoluten Geiſtes, in ihrem Verfahren
aber von den übrigen Formen dieſer höchſten Sphäre gerade dadurch ver-
ſchieden, daß ſie die Sinnlichkeit in ſie heraufnimmt und die höchſte Einheit
in das ſinnlich Eine legt, und eben dieſer Unterſchied war hier zu betonen.
Ferner erkennt Humboldt als weſentlichen Grundzug des Schönen die
Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, dieſe müſſe dadurch
bewerkſtelligt werden, daß die Dinge in ihrem allſeitigen Zuſammenhang
nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf dieſe Weiſe tilgt
eben nur die Proſa den rohen Begriff des Zufalls, indem ſie zeigt, daß
das, was eine jeweilig gegebene Linie anſcheinend irrationell durchkreuzt,
vielmehr nur eine Folge davon iſt, daß das Ganze des Lebens ein Syſtem
von Linien bildet, die ſich nach allen Seiten unberechenbar ſchneiden; nicht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/70>, abgerufen am 21.11.2024.
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