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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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scheinen; allein der Charakter der ganzen Auffassung ist damit nicht erschöpft;
und ebensowenig durch W. v. Humboldt's entsprechende Unterscheidung der
zwei Style als des bildenden und stimmenden (Aesthet. Verf. Ab-
schnitt XIV). Es handelt sich nämlich darum, wie das Uebergewicht der
subjectiven Welt in der Art der dichterischen Zeichnung der Gegenstände
sich äußere; und hier tritt ein Merkmal auf, das mit dem Sentimentalen,
blos Stimmenden gerade in Widerspruch zu stehen scheint. Eine Vergleichung
zwischen Homer und Ariost, wie sie W. v. Humboldt (a. a. O. Abschn. XXI)
anstellt, dient nicht dazu, dasselbe zu finden, das halb ironische, halb senti-
mentale Spiel der Einbildungskraft ist eine vereinzelte Erscheinung ohne
Anspruch auf Allgemeinheit. Das Wahre ist vielmehr, daß der Geist, der
die Dinge im Lichte der innern Unendlichkeit auffaßt, gerade eine schärfere
Zeichnung der Einzelzüge begründet, als jener Idealismus, weil im Lichte
des eröffneten Zusammenhangs mit der unermeßlich vertieften inneren Welt
selbst das Kleine, Enge, höchst Eigenthümliche berechtigt, bedeutend wird.
Der Styl, welcher vermöge des vorherrschenden Stimmungstons nach der
einen Seite einen gewissen musikalischen Nebel über die Dinge legt, ist
daher ebenderselbe, welcher diesen Nebel plötzlich zerreißt und in alle Falten
und Winkel der Welt, selbst in die häßlichen, Strahlen von einer Schärfe
schießt, vor welchen der classische zurückscheut. Die Schönheit aber resultirt
dann eben als stimmungsvoller Geist aus dem Ganzen. Es mag in ge-
wissen Zweigen der Dichtkunst, die sich in diesem Elemente bewegt, Er-
scheinungen geben, welche sich ganz in jenem empfindungsvollen Dufte
halten, zu keinerlei Härte und Schärfe fortgehen und doch gut sind, aber
im Ganzen und Großen wird, wo die bewegte Subjectivität der Auffassung
herrscht, das Verfolgen des Objects in die engere Naturwahrheit wesentlich
mitgesetzt sein. Dieß nun hat man im Auge, wenn man diesen Styl den
realistischen nennt; der classische heißt so, wenn man die Objectivität der
Vergegenwärtigung überhaupt, der naturalisirende und individualisirende,
wenn man Grad und Umfang des Hereinziehens der Einzelzüge des Da-
seins betont; Realismus im letzteren Sinn ist die gründliche Versetzung
künstlerischen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Existenz,
der ausführlichere Schein des Lebens. Man sieht, wie sich diese Bestim-
mungen herumwerfen: beide Style sind in gewissem Sinne idealistisch und
beide in gewissem Sinne realistisch; der erstere ist idealistisch im Sinne der
strengeren Ausscheidung der particularen Züge, der zweite ist in diesem
Sinne realistisch, der erste ist realistisch, weil er keine verborgene Innerlich-
keit kennt, der zweite ist in dem Sinn idealistisch, daß er seinen Ausgang
von dieser Tiefe nimmt. Idealismus als Bezeichnung des ersteren kann
weniger mißverstanden werden, aber den Namen realistisch, der sonst für
den zweiten gebraucht wird, haben wir vermieden, um der Verwirrung zu

ſcheinen; allein der Charakter der ganzen Auffaſſung iſt damit nicht erſchöpft;
und ebenſowenig durch W. v. Humboldt’s entſprechende Unterſcheidung der
zwei Style als des bildenden und ſtimmenden (Aeſthet. Verf. Ab-
ſchnitt XIV). Es handelt ſich nämlich darum, wie das Uebergewicht der
ſubjectiven Welt in der Art der dichteriſchen Zeichnung der Gegenſtände
ſich äußere; und hier tritt ein Merkmal auf, das mit dem Sentimentalen,
blos Stimmenden gerade in Widerſpruch zu ſtehen ſcheint. Eine Vergleichung
zwiſchen Homer und Arioſt, wie ſie W. v. Humboldt (a. a. O. Abſchn. XXI)
anſtellt, dient nicht dazu, daſſelbe zu finden, das halb ironiſche, halb ſenti-
mentale Spiel der Einbildungskraft iſt eine vereinzelte Erſcheinung ohne
Anſpruch auf Allgemeinheit. Das Wahre iſt vielmehr, daß der Geiſt, der
die Dinge im Lichte der innern Unendlichkeit auffaßt, gerade eine ſchärfere
Zeichnung der Einzelzüge begründet, als jener Idealiſmus, weil im Lichte
des eröffneten Zuſammenhangs mit der unermeßlich vertieften inneren Welt
ſelbſt das Kleine, Enge, höchſt Eigenthümliche berechtigt, bedeutend wird.
Der Styl, welcher vermöge des vorherrſchenden Stimmungstons nach der
einen Seite einen gewiſſen muſikaliſchen Nebel über die Dinge legt, iſt
daher ebenderſelbe, welcher dieſen Nebel plötzlich zerreißt und in alle Falten
und Winkel der Welt, ſelbſt in die häßlichen, Strahlen von einer Schärfe
ſchießt, vor welchen der claſſiſche zurückſcheut. Die Schönheit aber reſultirt
dann eben als ſtimmungsvoller Geiſt aus dem Ganzen. Es mag in ge-
wiſſen Zweigen der Dichtkunſt, die ſich in dieſem Elemente bewegt, Er-
ſcheinungen geben, welche ſich ganz in jenem empfindungsvollen Dufte
halten, zu keinerlei Härte und Schärfe fortgehen und doch gut ſind, aber
im Ganzen und Großen wird, wo die bewegte Subjectivität der Auffaſſung
herrſcht, das Verfolgen des Objects in die engere Naturwahrheit weſentlich
mitgeſetzt ſein. Dieß nun hat man im Auge, wenn man dieſen Styl den
realiſtiſchen nennt; der claſſiſche heißt ſo, wenn man die Objectivität der
Vergegenwärtigung überhaupt, der naturaliſirende und individualiſirende,
wenn man Grad und Umfang des Hereinziehens der Einzelzüge des Da-
ſeins betont; Realiſmus im letzteren Sinn iſt die gründliche Verſetzung
künſtleriſchen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Exiſtenz,
der ausführlichere Schein des Lebens. Man ſieht, wie ſich dieſe Beſtim-
mungen herumwerfen: beide Style ſind in gewiſſem Sinne idealiſtiſch und
beide in gewiſſem Sinne realiſtiſch; der erſtere iſt idealiſtiſch im Sinne der
ſtrengeren Ausſcheidung der particularen Züge, der zweite iſt in dieſem
Sinne realiſtiſch, der erſte iſt realiſtiſch, weil er keine verborgene Innerlich-
keit kennt, der zweite iſt in dem Sinn idealiſtiſch, daß er ſeinen Ausgang
von dieſer Tiefe nimmt. Idealiſmus als Bezeichnung des erſteren kann
weniger mißverſtanden werden, aber den Namen realiſtiſch, der ſonſt für
den zweiten gebraucht wird, haben wir vermieden, um der Verwirrung zu

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[1214/0078] ſcheinen; allein der Charakter der ganzen Auffaſſung iſt damit nicht erſchöpft; und ebenſowenig durch W. v. Humboldt’s entſprechende Unterſcheidung der zwei Style als des bildenden und ſtimmenden (Aeſthet. Verf. Ab- ſchnitt XIV). Es handelt ſich nämlich darum, wie das Uebergewicht der ſubjectiven Welt in der Art der dichteriſchen Zeichnung der Gegenſtände ſich äußere; und hier tritt ein Merkmal auf, das mit dem Sentimentalen, blos Stimmenden gerade in Widerſpruch zu ſtehen ſcheint. Eine Vergleichung zwiſchen Homer und Arioſt, wie ſie W. v. Humboldt (a. a. O. Abſchn. XXI) anſtellt, dient nicht dazu, daſſelbe zu finden, das halb ironiſche, halb ſenti- mentale Spiel der Einbildungskraft iſt eine vereinzelte Erſcheinung ohne Anſpruch auf Allgemeinheit. Das Wahre iſt vielmehr, daß der Geiſt, der die Dinge im Lichte der innern Unendlichkeit auffaßt, gerade eine ſchärfere Zeichnung der Einzelzüge begründet, als jener Idealiſmus, weil im Lichte des eröffneten Zuſammenhangs mit der unermeßlich vertieften inneren Welt ſelbſt das Kleine, Enge, höchſt Eigenthümliche berechtigt, bedeutend wird. Der Styl, welcher vermöge des vorherrſchenden Stimmungstons nach der einen Seite einen gewiſſen muſikaliſchen Nebel über die Dinge legt, iſt daher ebenderſelbe, welcher dieſen Nebel plötzlich zerreißt und in alle Falten und Winkel der Welt, ſelbſt in die häßlichen, Strahlen von einer Schärfe ſchießt, vor welchen der claſſiſche zurückſcheut. Die Schönheit aber reſultirt dann eben als ſtimmungsvoller Geiſt aus dem Ganzen. Es mag in ge- wiſſen Zweigen der Dichtkunſt, die ſich in dieſem Elemente bewegt, Er- ſcheinungen geben, welche ſich ganz in jenem empfindungsvollen Dufte halten, zu keinerlei Härte und Schärfe fortgehen und doch gut ſind, aber im Ganzen und Großen wird, wo die bewegte Subjectivität der Auffaſſung herrſcht, das Verfolgen des Objects in die engere Naturwahrheit weſentlich mitgeſetzt ſein. Dieß nun hat man im Auge, wenn man dieſen Styl den realiſtiſchen nennt; der claſſiſche heißt ſo, wenn man die Objectivität der Vergegenwärtigung überhaupt, der naturaliſirende und individualiſirende, wenn man Grad und Umfang des Hereinziehens der Einzelzüge des Da- ſeins betont; Realiſmus im letzteren Sinn iſt die gründliche Verſetzung künſtleriſchen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Exiſtenz, der ausführlichere Schein des Lebens. Man ſieht, wie ſich dieſe Beſtim- mungen herumwerfen: beide Style ſind in gewiſſem Sinne idealiſtiſch und beide in gewiſſem Sinne realiſtiſch; der erſtere iſt idealiſtiſch im Sinne der ſtrengeren Ausſcheidung der particularen Züge, der zweite iſt in dieſem Sinne realiſtiſch, der erſte iſt realiſtiſch, weil er keine verborgene Innerlich- keit kennt, der zweite iſt in dem Sinn idealiſtiſch, daß er ſeinen Ausgang von dieſer Tiefe nimmt. Idealiſmus als Bezeichnung des erſteren kann weniger mißverſtanden werden, aber den Namen realiſtiſch, der ſonſt für den zweiten gebraucht wird, haben wir vermieden, um der Verwirrung zu

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/78>, abgerufen am 21.11.2024.