die Einzelvorstellungen, die es in seinen verständigen Zusammenhang reiht, für die innere Anschauung zu beleben. Es ist nun nicht nur vergessen, warum ein Gegenstand so und nicht anders genannt wird, das Denkbild wird nicht nur immer blasser, sondern es verliert auch eine immer größere Anzahl von Wörtern ihre ursprünglich sinnliche Bedeutung und wird in der metaphorischen gebraucht, als wäre dieß die eigentliche (z. B. Herz, wirken, entwickeln). Jenes Wort, daß die Poesie älter sei, als die Prosa, gilt daher nicht nur von der früheren Ausbildung der ersteren als An- schauungsweise überhaupt und im Liede, das lebendig von Mund zu Munde gieng, ehe es eine Kunst der prosaischen Darstellung geben konnte, sondern im weiteren, unbestimmteren Sinne von der sinnlichen Frische der ursprüng- lichen Sprache der Naturvölker und der damit verbundenen Vorstellung. Eigentliche und wahre Poesie setzt jedoch die Prosa voraus, entspringt aus einer Macht des Geistes, die mit dieser ringt und das ideale Weltbild aus ihr herausarbeitet. Je weiter die Prosa, als Bildungsform und Auf- fassungsweise überhaupt, vorgeschritten, desto schwerer freilich ist dieser Kampf, desto schwerer erklingt die spröde Verständigkeit der Sprache im Munde des Dichters. Seine Aufgabe nun ist, dafür zu sorgen, daß das Wort dem Hörer nicht mechanisches, todtes Zeichen bleibe, er muß ihn zwingen, zu sehen und Belebtes, selbständig Lebendiges zu sehen. Der §. unter- scheidet diese beiden Seiten, denn es handelt sich von dem doppelten Berufe der Poesie, nach der einen Seite das Wesen der bildenden Kunst, nach der andern die Natur der Musik geistig auf ihrem Boden wiederherzustellen (§. 838 und 839); daß er Gestalten vor uns hervorruft, darin gleicht der Dichter dem bildenden Künstler, daß diese Gestalten sich bewegen, von innerem Leben erklingen, darin ist er dem Musiker verwandt. Dieser Unter- schied wird seine Anwendung finden, wenn wir die Arten der Mittel, wo- durch die Phantasie vom Dichter zum lebendigen Bilden aufgerufen wird, näher auseinandersetzen. Zunächst muß hier noch die Rückwirkung auf die Prosa, die Sprache überhaupt hervorgehoben werden. Nach Wortbildung Wörterverbindung, Wortstellung, Periodenbau, Kraft, Lebendigkeit und Reichthum anschaulicher directer und bildlicher Bezeichnungen verdankt die gewöhnliche Sprache dem stetigen Einflusse der Dichtkunst, noch mehr den plötzlichen und reichen Strömen, die in den großen Momenten ihrer Wiedergeburt hervorbrechen, unendliche Befruchtung. Man muß z. B. wissen, wie viele Ausdrücke, die wir jetzt als höchst natürliche und schlichte gebrauchen, Gotsched noch als ganz entsetzlich verwarf (wir nennen: das Jauchzen, das ewige Schaffen, das Lächeln, das Jugendliche). Mit Klopstock brach damals die schöpferische Sprachkraft herein und Göthe's jugendliche Poesie wimmelt von Sprachbildungen, in welchen die kühne und doch so warme, milde, weiche Gestaltungskraft sprudelt. Hat sich aber die
die Einzelvorſtellungen, die es in ſeinen verſtändigen Zuſammenhang reiht, für die innere Anſchauung zu beleben. Es iſt nun nicht nur vergeſſen, warum ein Gegenſtand ſo und nicht anders genannt wird, das Denkbild wird nicht nur immer blaſſer, ſondern es verliert auch eine immer größere Anzahl von Wörtern ihre urſprünglich ſinnliche Bedeutung und wird in der metaphoriſchen gebraucht, als wäre dieß die eigentliche (z. B. Herz, wirken, entwickeln). Jenes Wort, daß die Poeſie älter ſei, als die Proſa, gilt daher nicht nur von der früheren Ausbildung der erſteren als An- ſchauungsweiſe überhaupt und im Liede, das lebendig von Mund zu Munde gieng, ehe es eine Kunſt der proſaiſchen Darſtellung geben konnte, ſondern im weiteren, unbeſtimmteren Sinne von der ſinnlichen Friſche der urſprüng- lichen Sprache der Naturvölker und der damit verbundenen Vorſtellung. Eigentliche und wahre Poeſie ſetzt jedoch die Proſa voraus, entſpringt aus einer Macht des Geiſtes, die mit dieſer ringt und das ideale Weltbild aus ihr herausarbeitet. Je weiter die Proſa, als Bildungsform und Auf- faſſungsweiſe überhaupt, vorgeſchritten, deſto ſchwerer freilich iſt dieſer Kampf, deſto ſchwerer erklingt die ſpröde Verſtändigkeit der Sprache im Munde des Dichters. Seine Aufgabe nun iſt, dafür zu ſorgen, daß das Wort dem Hörer nicht mechaniſches, todtes Zeichen bleibe, er muß ihn zwingen, zu ſehen und Belebtes, ſelbſtändig Lebendiges zu ſehen. Der §. unter- ſcheidet dieſe beiden Seiten, denn es handelt ſich von dem doppelten Berufe der Poeſie, nach der einen Seite das Weſen der bildenden Kunſt, nach der andern die Natur der Muſik geiſtig auf ihrem Boden wiederherzuſtellen (§. 838 und 839); daß er Geſtalten vor uns hervorruft, darin gleicht der Dichter dem bildenden Künſtler, daß dieſe Geſtalten ſich bewegen, von innerem Leben erklingen, darin iſt er dem Muſiker verwandt. Dieſer Unter- ſchied wird ſeine Anwendung finden, wenn wir die Arten der Mittel, wo- durch die Phantaſie vom Dichter zum lebendigen Bilden aufgerufen wird, näher auseinanderſetzen. Zunächſt muß hier noch die Rückwirkung auf die Proſa, die Sprache überhaupt hervorgehoben werden. Nach Wortbildung Wörterverbindung, Wortſtellung, Periodenbau, Kraft, Lebendigkeit und Reichthum anſchaulicher directer und bildlicher Bezeichnungen verdankt die gewöhnliche Sprache dem ſtetigen Einfluſſe der Dichtkunſt, noch mehr den plötzlichen und reichen Strömen, die in den großen Momenten ihrer Wiedergeburt hervorbrechen, unendliche Befruchtung. Man muß z. B. wiſſen, wie viele Ausdrücke, die wir jetzt als höchſt natürliche und ſchlichte gebrauchen, Gotſched noch als ganz entſetzlich verwarf (wir nennen: das Jauchzen, das ewige Schaffen, das Lächeln, das Jugendliche). Mit Klopſtock brach damals die ſchöpferiſche Sprachkraft herein und Göthe’s jugendliche Poeſie wimmelt von Sprachbildungen, in welchen die kühne und doch ſo warme, milde, weiche Geſtaltungskraft ſprudelt. Hat ſich aber die
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[1216/0080]
die Einzelvorſtellungen, die es in ſeinen verſtändigen Zuſammenhang reiht,
für die innere Anſchauung zu beleben. Es iſt nun nicht nur vergeſſen,
warum ein Gegenſtand ſo und nicht anders genannt wird, das Denkbild
wird nicht nur immer blaſſer, ſondern es verliert auch eine immer größere
Anzahl von Wörtern ihre urſprünglich ſinnliche Bedeutung und wird in
der metaphoriſchen gebraucht, als wäre dieß die eigentliche (z. B. Herz,
wirken, entwickeln). Jenes Wort, daß die Poeſie älter ſei, als die Proſa,
gilt daher nicht nur von der früheren Ausbildung der erſteren als An-
ſchauungsweiſe überhaupt und im Liede, das lebendig von Mund zu Munde
gieng, ehe es eine Kunſt der proſaiſchen Darſtellung geben konnte, ſondern
im weiteren, unbeſtimmteren Sinne von der ſinnlichen Friſche der urſprüng-
lichen Sprache der Naturvölker und der damit verbundenen Vorſtellung.
Eigentliche und wahre Poeſie ſetzt jedoch die Proſa voraus, entſpringt aus
einer Macht des Geiſtes, die mit dieſer ringt und das ideale Weltbild aus
ihr herausarbeitet. Je weiter die Proſa, als Bildungsform und Auf-
faſſungsweiſe überhaupt, vorgeſchritten, deſto ſchwerer freilich iſt dieſer Kampf,
deſto ſchwerer erklingt die ſpröde Verſtändigkeit der Sprache im Munde des
Dichters. Seine Aufgabe nun iſt, dafür zu ſorgen, daß das Wort dem
Hörer nicht mechaniſches, todtes Zeichen bleibe, er muß ihn zwingen, zu
ſehen und Belebtes, ſelbſtändig Lebendiges zu ſehen. Der §. unter-
ſcheidet dieſe beiden Seiten, denn es handelt ſich von dem doppelten Berufe
der Poeſie, nach der einen Seite das Weſen der bildenden Kunſt, nach
der andern die Natur der Muſik geiſtig auf ihrem Boden wiederherzuſtellen
(§. 838 und 839); daß er Geſtalten vor uns hervorruft, darin gleicht
der Dichter dem bildenden Künſtler, daß dieſe Geſtalten ſich bewegen, von
innerem Leben erklingen, darin iſt er dem Muſiker verwandt. Dieſer Unter-
ſchied wird ſeine Anwendung finden, wenn wir die Arten der Mittel, wo-
durch die Phantaſie vom Dichter zum lebendigen Bilden aufgerufen wird,
näher auseinanderſetzen. Zunächſt muß hier noch die Rückwirkung auf
die Proſa, die Sprache überhaupt hervorgehoben werden. Nach Wortbildung
Wörterverbindung, Wortſtellung, Periodenbau, Kraft, Lebendigkeit und
Reichthum anſchaulicher directer und bildlicher Bezeichnungen verdankt die
gewöhnliche Sprache dem ſtetigen Einfluſſe der Dichtkunſt, noch mehr den
plötzlichen und reichen Strömen, die in den großen Momenten ihrer
Wiedergeburt hervorbrechen, unendliche Befruchtung. Man muß z. B.
wiſſen, wie viele Ausdrücke, die wir jetzt als höchſt natürliche und ſchlichte
gebrauchen, Gotſched noch als ganz entſetzlich verwarf (wir nennen: das
Jauchzen, das ewige Schaffen, das Lächeln, das Jugendliche). Mit
Klopſtock brach damals die ſchöpferiſche Sprachkraft herein und Göthe’s
jugendliche Poeſie wimmelt von Sprachbildungen, in welchen die kühne und
doch ſo warme, milde, weiche Geſtaltungskraft ſprudelt. Hat ſich aber die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/80>, abgerufen am 21.11.2024.
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