Grazien dar in holder, marzipansüßer Umschlingung! Es ist leicht, es ist wohlfeil, mit so butterweichem Symbole lügen, das Leben verlaufe sich in unge¬ brochenen Wellenlinien! Man stelle die Wahrheit dar, allerdings in mythischem Gewand, in großartiger, geister¬ hafter Personifikation! Drei furchtbare Weiber, schön und entsetzlich, grauenhaft schön, bilden, sich umarmend, eine Gruppe, ein Symplegma! --: der Schnupfen, der Katarrh oder Pfnüssel (dieß Wort hatte er, wie er er mir sagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach hier den Zug seiner Rede, verbreitete sich über dessen onomato-poetischen Werth und behauptete mit komi¬ scher Heftigkeit, das Wort sei keltischen Ursprungs, was ich ihm doch nicht bestritt, obwohl ich es für gut deutsch hielt) -- der Pfnüssel -- und die Grippe! Ziel, des edelsten Künstlers würdig! Hauptaufgabe: die Nüancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann ganz ideal und doch ganz wahr sein, der Ausdruck in Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Ver¬ ständniß behandelt wird, vollständig, die verschiedenen Grundzustände, die Stimmung, die Verdüsterungsgrade der Nerven, des Gehirns höchst überzeugend auszu¬ prägen; haben doch die Griechen selbst uns den Weg gezeigt, indem sie die Meduse -- vielleicht selbst ur¬ sprünglich eine Personifikation des Katarrhs -- (er
Grazien dar in holder, marzipanſüßer Umſchlingung! Es iſt leicht, es iſt wohlfeil, mit ſo butterweichem Symbole lügen, das Leben verlaufe ſich in unge¬ brochenen Wellenlinien! Man ſtelle die Wahrheit dar, allerdings in mythiſchem Gewand, in großartiger, geiſter¬ hafter Perſonifikation! Drei furchtbare Weiber, ſchön und entſetzlich, grauenhaft ſchön, bilden, ſich umarmend, eine Gruppe, ein Symplegma! —: der Schnupfen, der Katarrh oder Pfnüſſel (dieß Wort hatte er, wie er er mir ſagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach hier den Zug ſeiner Rede, verbreitete ſich über deſſen onomato-poetiſchen Werth und behauptete mit komi¬ ſcher Heftigkeit, das Wort ſei keltiſchen Urſprungs, was ich ihm doch nicht beſtritt, obwohl ich es für gut deutſch hielt) — der Pfnüſſel — und die Grippe! Ziel, des edelſten Künſtlers würdig! Hauptaufgabe: die Nüancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann ganz ideal und doch ganz wahr ſein, der Ausdruck in Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Ver¬ ſtändniß behandelt wird, vollſtändig, die verſchiedenen Grundzuſtände, die Stimmung, die Verdüſterungsgrade der Nerven, des Gehirns höchſt überzeugend auszu¬ prägen; haben doch die Griechen ſelbſt uns den Weg gezeigt, indem ſie die Meduſe — vielleicht ſelbſt ur¬ ſprünglich eine Perſonifikation des Katarrhs — (er
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Grazien dar in holder, marzipanſüßer Umſchlingung!
Es iſt leicht, es iſt wohlfeil, mit ſo butterweichem
Symbole lügen, das Leben verlaufe ſich in unge¬
brochenen Wellenlinien! Man ſtelle die Wahrheit dar,
allerdings in mythiſchem Gewand, in großartiger, geiſter¬
hafter Perſonifikation! Drei furchtbare Weiber, ſchön
und entſetzlich, grauenhaft ſchön, bilden, ſich umarmend,
eine Gruppe, ein Symplegma! —: der Schnupfen,
der Katarrh oder Pfnüſſel (dieß Wort hatte er, wie er
er mir ſagte, in der Schweiz aufgefangen; er unterbrach
hier den Zug ſeiner Rede, verbreitete ſich über deſſen
onomato-poetiſchen Werth und behauptete mit komi¬
ſcher Heftigkeit, das Wort ſei keltiſchen Urſprungs,
was ich ihm doch nicht beſtritt, obwohl ich es für gut
deutſch hielt) — der Pfnüſſel — und die Grippe! Ziel,
des edelſten Künſtlers würdig! Hauptaufgabe: die
Nüancen, die Stufen richtig zu geben, abzutonen! Es
bedarf dabei keiner gemeinen Naturwahrheit, man kann
ganz ideal und doch ganz wahr ſein, der Ausdruck in
Stirne, Augen, Lippen, Haltung und Bewegung des
ganzen Leibes genügt, wenn er mit zartem Ver¬
ſtändniß behandelt wird, vollſtändig, die verſchiedenen
Grundzuſtände, die Stimmung, die Verdüſterungsgrade
der Nerven, des Gehirns höchſt überzeugend auszu¬
prägen; haben doch die Griechen ſelbſt uns den Weg
gezeigt, indem ſie die Meduſe — vielleicht ſelbſt ur¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/114>, abgerufen am 22.12.2024.
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