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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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es Eigenthum geben muß, durch Gesetze geschützt, daß
die Raserei des Geschlechtstriebs nicht zu zügeln sei,
als durch die Ehe. So entstand eine zweite Welt
in der Welt, eine zweite Natur über der Natur, die
sittliche Welt. Dieß heiße ich für meinen Bedarf das
zweite Stockwerk. Wie nun jene Naturtypen nach so
langen, harten Prozessen festgestellt sind, als wären sie
ewig festgestanden, so die sittliche Ordnung. Sie hebt
sich über die Zeit aus der Zeit heraus, ist ein Unbe¬
dingtes, an sich Wahres, man kann ganz davon ab¬
sehen, es ist auch gleichgültig, daß sie in der Zeit
entstanden ist, -- ewige Substanzen, die "droben
hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die
Sterne selbst". Sie sind allerdings auch in einer
Entwicklung begriffen, aber diese trifft nicht ihren
Kern; Eigenthum, Recht, Gesetz, Staat muß immer
und ewig sein. Und das Höchste in diesem Hohen:
die Einrichtungen, Thätigkeiten, die dem Mitleid ihr
Dasein verdanken, und Kunst und Wissenschaft. --
Mir will es aber immer vorkommen, als sei in dem
ersten Stockwerk ein Zorn, ein Gift darüber, daß es
das zweite tragen muß, als sei da -- ein -- ein
Etwas, ein Rachgeist, Tücke, nach den höheren Wesen,
nach den Zimmerleuten des zweiten Stockwerks mit
Nadeln, mit Pfriemen, haarfeinen Dolchen durch die
Dielenspalten hinaufzustechen -- --


es Eigenthum geben muß, durch Geſetze geſchützt, daß
die Raſerei des Geſchlechtstriebs nicht zu zügeln ſei,
als durch die Ehe. So entſtand eine zweite Welt
in der Welt, eine zweite Natur über der Natur, die
ſittliche Welt. Dieß heiße ich für meinen Bedarf das
zweite Stockwerk. Wie nun jene Naturtypen nach ſo
langen, harten Prozeſſen feſtgeſtellt ſind, als wären ſie
ewig feſtgeſtanden, ſo die ſittliche Ordnung. Sie hebt
ſich über die Zeit aus der Zeit heraus, iſt ein Unbe¬
dingtes, an ſich Wahres, man kann ganz davon ab¬
ſehen, es iſt auch gleichgültig, daß ſie in der Zeit
entſtanden iſt, — ewige Subſtanzen, die „droben
hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die
Sterne ſelbſt“. Sie ſind allerdings auch in einer
Entwicklung begriffen, aber dieſe trifft nicht ihren
Kern; Eigenthum, Recht, Geſetz, Staat muß immer
und ewig ſein. Und das Höchſte in dieſem Hohen:
die Einrichtungen, Thätigkeiten, die dem Mitleid ihr
Daſein verdanken, und Kunſt und Wiſſenſchaft. —
Mir will es aber immer vorkommen, als ſei in dem
erſten Stockwerk ein Zorn, ein Gift darüber, daß es
das zweite tragen muß, als ſei da — ein — ein
Etwas, ein Rachgeiſt, Tücke, nach den höheren Weſen,
nach den Zimmerleuten des zweiten Stockwerks mit
Nadeln, mit Pfriemen, haarfeinen Dolchen durch die
Dielenſpalten hinaufzuſtechen — —


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[115/0128] es Eigenthum geben muß, durch Geſetze geſchützt, daß die Raſerei des Geſchlechtstriebs nicht zu zügeln ſei, als durch die Ehe. So entſtand eine zweite Welt in der Welt, eine zweite Natur über der Natur, die ſittliche Welt. Dieß heiße ich für meinen Bedarf das zweite Stockwerk. Wie nun jene Naturtypen nach ſo langen, harten Prozeſſen feſtgeſtellt ſind, als wären ſie ewig feſtgeſtanden, ſo die ſittliche Ordnung. Sie hebt ſich über die Zeit aus der Zeit heraus, iſt ein Unbe¬ dingtes, an ſich Wahres, man kann ganz davon ab¬ ſehen, es iſt auch gleichgültig, daß ſie in der Zeit entſtanden iſt, — ewige Subſtanzen, die „droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne ſelbſt“. Sie ſind allerdings auch in einer Entwicklung begriffen, aber dieſe trifft nicht ihren Kern; Eigenthum, Recht, Geſetz, Staat muß immer und ewig ſein. Und das Höchſte in dieſem Hohen: die Einrichtungen, Thätigkeiten, die dem Mitleid ihr Daſein verdanken, und Kunſt und Wiſſenſchaft. — Mir will es aber immer vorkommen, als ſei in dem erſten Stockwerk ein Zorn, ein Gift darüber, daß es das zweite tragen muß, als ſei da — ein — ein Etwas, ein Rachgeiſt, Tücke, nach den höheren Weſen, nach den Zimmerleuten des zweiten Stockwerks mit Nadeln, mit Pfriemen, haarfeinen Dolchen durch die Dielenſpalten hinaufzuſtechen — —

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/128>, abgerufen am 21.11.2024.