Wenn die allgemeine Zuchtlosigkeit zunimmt, wenn sie zu Verbrechen auf Verbrechen führt, wird der Staat meinen, die bestehende Religion mit Zwangsmitteln aufrechtzuhalten, wiederherstellen zu müssen. Vergeblich! Eine in der Auflösung begriffene Religionsform läßt sich nicht halten; man pflanzt nur Heuchelei. Drako¬ nische Strenge wird gut thun, aber eine Reaktion in dieser Richtung würde den Staat nicht stützen, nur noch mehr untergraben; er würde sich nur die Ruthe der Pfaffengewalt noch lästiger auf den Rücken binden, und wollte er nachher wieder einlenken, lockern, so würde ein Ravaillac nicht ausbleiben.
Oft in dieser Noth meines Herzens um die hülf¬ lose Menschheit denke ich: ehe Luther kam, ahnte auch kein Mensch, daß ein solcher Reformator erscheinen werde. Niemand von Allen, die in das Elend ein Einsehen hatten, wußte Rath. In solcher Stunde ist es doch schon mehr als Einmal geschehen, daß der rettende Genius geboren wurde. Das ist nun freilich pure Hoffnung, ganz blind, ohne jeden Begriff; denn alle Begriffe führen ja eben in's Rathlose. Luther ließ einen guten Theil des Pigments stehen, das be¬ durfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit dem entwächst, so ist sie doch nicht die Allheit, ein Rest Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie sollte nun
Wenn die allgemeine Zuchtloſigkeit zunimmt, wenn ſie zu Verbrechen auf Verbrechen führt, wird der Staat meinen, die beſtehende Religion mit Zwangsmitteln aufrechtzuhalten, wiederherſtellen zu müſſen. Vergeblich! Eine in der Auflöſung begriffene Religionsform läßt ſich nicht halten; man pflanzt nur Heuchelei. Drako¬ niſche Strenge wird gut thun, aber eine Reaktion in dieſer Richtung würde den Staat nicht ſtützen, nur noch mehr untergraben; er würde ſich nur die Ruthe der Pfaffengewalt noch läſtiger auf den Rücken binden, und wollte er nachher wieder einlenken, lockern, ſo würde ein Ravaillac nicht ausbleiben.
Oft in dieſer Noth meines Herzens um die hülf¬ loſe Menſchheit denke ich: ehe Luther kam, ahnte auch kein Menſch, daß ein ſolcher Reformator erſcheinen werde. Niemand von Allen, die in das Elend ein Einſehen hatten, wußte Rath. In ſolcher Stunde iſt es doch ſchon mehr als Einmal geſchehen, daß der rettende Genius geboren wurde. Das iſt nun freilich pure Hoffnung, ganz blind, ohne jeden Begriff; denn alle Begriffe führen ja eben in's Rathloſe. Luther ließ einen guten Theil des Pigments ſtehen, das be¬ durfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit dem entwächſt, ſo iſt ſie doch nicht die Allheit, ein Reſt Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie ſollte nun
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Wenn die allgemeine Zuchtloſigkeit zunimmt, wenn
ſie zu Verbrechen auf Verbrechen führt, wird der Staat
meinen, die beſtehende Religion mit Zwangsmitteln
aufrechtzuhalten, wiederherſtellen zu müſſen. Vergeblich!
Eine in der Auflöſung begriffene Religionsform läßt
ſich nicht halten; man pflanzt nur Heuchelei. Drako¬
niſche Strenge wird gut thun, aber eine Reaktion
in dieſer Richtung würde den Staat nicht ſtützen,
nur noch mehr untergraben; er würde ſich nur die
Ruthe der Pfaffengewalt noch läſtiger auf den Rücken
binden, und wollte er nachher wieder einlenken, lockern,
ſo würde ein Ravaillac nicht ausbleiben.
Oft in dieſer Noth meines Herzens um die hülf¬
loſe Menſchheit denke ich: ehe Luther kam, ahnte auch
kein Menſch, daß ein ſolcher Reformator erſcheinen
werde. Niemand von Allen, die in das Elend ein
Einſehen hatten, wußte Rath. In ſolcher Stunde
iſt es doch ſchon mehr als Einmal geſchehen, daß der
rettende Genius geboren wurde. Das iſt nun freilich
pure Hoffnung, ganz blind, ohne jeden Begriff; denn
alle Begriffe führen ja eben in's Rathloſe. Luther
ließ einen guten Theil des Pigments ſtehen, das be¬
durfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit
dem entwächſt, ſo iſt ſie doch nicht die Allheit, ein
Reſt Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie ſollte nun
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/416>, abgerufen am 04.12.2024.
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