Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1245.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0107" n="1245"/><lb n="pvi_1245.001"/> ihrem ursprünglichen Gesetze der Hebung und Senkung unterschiebt, an <lb n="pvi_1245.002"/> manchen Versstellen, namentlich des Jambus, einen nachdrucksvollen Kampf <lb n="pvi_1245.003"/> des Verses mit dem Schema einzuführen, indem sie z. B. Spondäen, Trochäen, <lb n="pvi_1245.004"/> Anapäste, Daktyle statt der Jamben-Füße anwendet. Man erkennt hier am <lb n="pvi_1245.005"/> unmittelbaren Eindrucke klar die Bedeutung einer solchen Divergenz: man <lb n="pvi_1245.006"/> stutzt, wird aufmerksam und fühlt mit doppelter Stärke auf der einen Seite <lb n="pvi_1245.007"/> das rhythmische Gesetz, auf der andern den emancipirten Nachdruck des <lb n="pvi_1245.008"/> Worts. – Auch das Uebergreifen des Sinns von dem einen Vers in den <lb n="pvi_1245.009"/> andern (<hi rendition="#aq">enjambement</hi>) ist ein wesentlicher Zug in dem freien Spiele der <lb n="pvi_1245.010"/> Anziehung und Abstoßung zwischen dem rhythmischen Schema und der <lb n="pvi_1245.011"/> Sprache; man trägt, was durch den Jnhalt zusammengebunden ist, auf <lb n="pvi_1245.012"/> das gleichförmig fortlaufende Versmaaß unwillkürlich so über, daß man <lb n="pvi_1245.013"/> sich an Strophen, an Strophengruppen erinnert fühlt, und die Pause des <lb n="pvi_1245.014"/> Sinnes scheint zur Pause des Vers- und Strophenschlusses zu werden, <lb n="pvi_1245.015"/> während diese fortbestehen und so ein Jneinanderschimmern von zwei Eindrücken <lb n="pvi_1245.016"/> entsteht. – Endlich der Vortrag. Es ist hier allerdings mehr die <lb n="pvi_1245.017"/> Declamation, als der Gesang, in's Auge zu fassen, jedoch nicht allein, denn <lb n="pvi_1245.018"/> der Gesang enthält jene in sich und hat das musikalische Schema ebenso <lb n="pvi_1245.019"/> mit der Sinn-Betonung durchschlingend zu beleben, wie die bloße Declamation <lb n="pvi_1245.020"/> das blos rhythmische. Aus diesem Zusammenhange haben wir schon <lb n="pvi_1245.021"/> oben die Seite heraufgenommen, wonach der Vortrag den Wort-Accent <lb n="pvi_1245.022"/> gegen den Vers-Accent hält und stützt; ebenso gibt er nun auch dem Sinn= <lb n="pvi_1245.023"/> Accent sein von diesem geschwächtes Recht, er legt jedem Worte erst die <lb n="pvi_1245.024"/> feineren Unterschiede des Nachdrucks und, zugleich im relativen Widerstreite <lb n="pvi_1245.025"/> mit Länge und Kürze, des Verweilens bei, die sein Empfindungsgehalt mit <lb n="pvi_1245.026"/> sich bringt; er faßt die Verse, worin der Sinn übergreift, in lebendigem <lb n="pvi_1245.027"/> Zuge zusammen, ohne den Versschluß ganz verschwinden zu lassen, umgekehrt <lb n="pvi_1245.028"/> pausirt er dem Sinne gemäß, wo der Vers fortläuft; er bringt aber <lb n="pvi_1245.029"/> vor Allem die Modulation der Scala hinzu, welche die Gefühlsschwingungen <lb n="pvi_1245.030"/> ausdrückt, wie sie durch den Jnhalt gegeben sind, und dieß ist die wichtigste <lb n="pvi_1245.031"/> Seite seines Geschäfts. Sie erweitert jene verschiedenen Momente, wodurch <lb n="pvi_1245.032"/> im poetischen Rhythmus etwas vom spezifisch Musikalischen anklingt, um <lb n="pvi_1245.033"/> eine wesentlich neue: das musikalische Rudiment, das im Sprechen liegt <lb n="pvi_1245.034"/> (§. 760), wächst im gehobenen Sprechen der Declamation. Die Linie, <lb n="pvi_1245.035"/> welche die richtige Mitte zwischen zu hörbarem Scandiren oder einer zur <lb n="pvi_1245.036"/> Manier gewordenen wiederkehrenden Scala und dem Erdrücken des Rhythmus <lb n="pvi_1245.037"/> unter dem Ton-Ausdrucke des Jnhalts beobachtet, ist allerdings fein <lb n="pvi_1245.038"/> und schwer zu treffen. Die romanischen Völker haben als Erbe aus dem <lb n="pvi_1245.039"/> antiken Vortrage der dramatischen Verse ein dem Recitativ oder dem liturgischen <lb n="pvi_1245.040"/> Halbgesange verwandtes singendes Sprechen überkommen. Der Krieg <lb n="pvi_1245.041"/> gegen die von ihnen ausgegangene conventionelle Poesie im vorigen Jahrhundert </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1245/0107]
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ihrem ursprünglichen Gesetze der Hebung und Senkung unterschiebt, an pvi_1245.002
manchen Versstellen, namentlich des Jambus, einen nachdrucksvollen Kampf pvi_1245.003
des Verses mit dem Schema einzuführen, indem sie z. B. Spondäen, Trochäen, pvi_1245.004
Anapäste, Daktyle statt der Jamben-Füße anwendet. Man erkennt hier am pvi_1245.005
unmittelbaren Eindrucke klar die Bedeutung einer solchen Divergenz: man pvi_1245.006
stutzt, wird aufmerksam und fühlt mit doppelter Stärke auf der einen Seite pvi_1245.007
das rhythmische Gesetz, auf der andern den emancipirten Nachdruck des pvi_1245.008
Worts. – Auch das Uebergreifen des Sinns von dem einen Vers in den pvi_1245.009
andern (enjambement) ist ein wesentlicher Zug in dem freien Spiele der pvi_1245.010
Anziehung und Abstoßung zwischen dem rhythmischen Schema und der pvi_1245.011
Sprache; man trägt, was durch den Jnhalt zusammengebunden ist, auf pvi_1245.012
das gleichförmig fortlaufende Versmaaß unwillkürlich so über, daß man pvi_1245.013
sich an Strophen, an Strophengruppen erinnert fühlt, und die Pause des pvi_1245.014
Sinnes scheint zur Pause des Vers- und Strophenschlusses zu werden, pvi_1245.015
während diese fortbestehen und so ein Jneinanderschimmern von zwei Eindrücken pvi_1245.016
entsteht. – Endlich der Vortrag. Es ist hier allerdings mehr die pvi_1245.017
Declamation, als der Gesang, in's Auge zu fassen, jedoch nicht allein, denn pvi_1245.018
der Gesang enthält jene in sich und hat das musikalische Schema ebenso pvi_1245.019
mit der Sinn-Betonung durchschlingend zu beleben, wie die bloße Declamation pvi_1245.020
das blos rhythmische. Aus diesem Zusammenhange haben wir schon pvi_1245.021
oben die Seite heraufgenommen, wonach der Vortrag den Wort-Accent pvi_1245.022
gegen den Vers-Accent hält und stützt; ebenso gibt er nun auch dem Sinn= pvi_1245.023
Accent sein von diesem geschwächtes Recht, er legt jedem Worte erst die pvi_1245.024
feineren Unterschiede des Nachdrucks und, zugleich im relativen Widerstreite pvi_1245.025
mit Länge und Kürze, des Verweilens bei, die sein Empfindungsgehalt mit pvi_1245.026
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Zuge zusammen, ohne den Versschluß ganz verschwinden zu lassen, umgekehrt pvi_1245.028
pausirt er dem Sinne gemäß, wo der Vers fortläuft; er bringt aber pvi_1245.029
vor Allem die Modulation der Scala hinzu, welche die Gefühlsschwingungen pvi_1245.030
ausdrückt, wie sie durch den Jnhalt gegeben sind, und dieß ist die wichtigste pvi_1245.031
Seite seines Geschäfts. Sie erweitert jene verschiedenen Momente, wodurch pvi_1245.032
im poetischen Rhythmus etwas vom spezifisch Musikalischen anklingt, um pvi_1245.033
eine wesentlich neue: das musikalische Rudiment, das im Sprechen liegt pvi_1245.034
(§. 760), wächst im gehobenen Sprechen der Declamation. Die Linie, pvi_1245.035
welche die richtige Mitte zwischen zu hörbarem Scandiren oder einer zur pvi_1245.036
Manier gewordenen wiederkehrenden Scala und dem Erdrücken des Rhythmus pvi_1245.037
unter dem Ton-Ausdrucke des Jnhalts beobachtet, ist allerdings fein pvi_1245.038
und schwer zu treffen. Die romanischen Völker haben als Erbe aus dem pvi_1245.039
antiken Vortrage der dramatischen Verse ein dem Recitativ oder dem liturgischen pvi_1245.040
Halbgesange verwandtes singendes Sprechen überkommen. Der Krieg pvi_1245.041
gegen die von ihnen ausgegangene conventionelle Poesie im vorigen Jahrhundert
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