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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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und in gleichen Zahlenreihen zusammengestellt; der epische (und gnomische) pvi_1247.002
Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieser ersten pvi_1247.003
kindlichen Stufe (auf welche die deutsche Poesie nach der Auflösung des pvi_1247.004
rhythmischen Gesetzes, das in der Poesie des Mittelalters herrschte, einige pvi_1247.005
Zeit lang zurücksank) einen Fortschritt: er besteht aus sechszehn Moren mit pvi_1247.006
einer Cäsur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hiedurch pvi_1247.007
zerfällt, sind die vier ersten Sylben in der Quantität völlig frei, pvi_1247.008
also rein gezählt, die vier folgenden aber metrisch gebunden, indem die pvi_1247.009
erste Hälfte mit einem Antispast, die zweite mit einem Doppeljambus pvi_1247.010
schließt, nur daß dort die Schlußsylbe auch lang, hier auch kurz sein kann. pvi_1247.011
Je zwei solche sechszehnsylbige Verse reihen sich als eine Art von Distichon pvi_1247.012
aneinander. Es hat sich bei den Jndiern im Verlauf eine große Zahl pvi_1247.013
anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metrischer Bindung, pvi_1247.014
entwickelt. - Eigenthümlich ist die Bindung von Wortreihen durch die pvi_1247.015
bloße Einheit des Gedankens in der hebräischen Poesie. Es besteht zwar pvi_1247.016
eine unbestimmte Grundlage von Sylbenmessung: die offene Sylbe hat in pvi_1247.017
der Regel den langen, die geschlossene an sich den kurzen Vocal, aber der pvi_1247.018
Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmischen Schema pvi_1247.019
zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, so bleibt nur pvi_1247.020
der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der sogenannte parallelismus membrorum, pvi_1247.021
der zwei Sätze im antithetischen, synonymen oder gar identischen pvi_1247.022
Sinne zusammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewissen Anklang pvi_1247.023
von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemistichen, pvi_1247.024
der Sylbenzahl sind mit der Wiederkehr des Jnhalts ungefähre Grenzen pvi_1247.025
gesetzt und als Ausdruck einer Neigung zu musikalischem Ersatz tritt gerne pvi_1247.026
die Assonanz ein. Zu der Ausbildung dieser Seite zeigte der Orient eine pvi_1247.027
aus der Stimmung seiner Phantasie begreifliche Neigung; der Reim war pvi_1247.028
in der arabischen Poesie vor der muhamedanischen Zeit und die neupersische pvi_1247.029
hat ihn (neben einer der deutschen Rhythmik verwandten Herrschaft des pvi_1247.030
Worttons) aufgenommen.

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Wir verweilen bei diesen unentschiedenen Formen nicht weiter, denn pvi_1247.032
uns beschäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegensatz zweier ausgebildeter pvi_1247.033
Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunstlehre pvi_1247.034
begleitet, auf dem rhythmischen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich pvi_1247.035
erscheint er auf demselben in besonders entschiedener Gestalt: hier die ruhige, pvi_1247.036
wohlgemessene, rein gegossene Form der unmittelbaren, plastischen Schönheit pvi_1247.037
der griechischen Muse, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geistig pvi_1247.038
durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, malerische, pvi_1247.039
charakteristische Schönheit der germanischen. Die griechische Rhythmik kann pvi_1247.040
als das Vollkommnere in diesem Gegensatz, als das Classische im Sinne pvi_1247.041
des Musterhaften angesehen werden, die deutsche ist genöthigt, in der Ausbildung

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Wir verweilen bei diesen unentschiedenen Formen nicht weiter, denn pvi_1247.032
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Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunstlehre pvi_1247.034
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/109>, abgerufen am 21.11.2024.