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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Weise angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen pvi_1251.002
gelten und beide gezählt werden. Jndem sich aber daneben die natürlichen pvi_1251.003
Längen, verschiedene Stufen der Oetonung, die Verschiebung des Accents durch pvi_1251.004
Zusammensetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent pvi_1251.005
den Wort-Accent kreuzt, entsteht ein Gebilde, dessen Körper von dem Geiste, pvi_1251.006
der sich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen ist. Diese Brechung der plasti-3. pvi_1251.007
schen Schönheit fordert einen Ersatz; derselbe ist gegeben in dem malerischen pvi_1251.008
und der eigentlichen Musik näher verwandten Mittel des Reims.

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1. Wir nennen diesen Styl (dessen Spuren sich übrigens auch in dem pvi_1251.010
Saturnischen Verse der ältesten römischen Poesie und, wie zu §. 859 berührt pvi_1251.011
ist, im Hebräischen und Neupersischen finden) vorerst germanisch, weil pvi_1251.012
er dem Deutschen und Skandinavischen gemein ist, nachher in seiner veränderten pvi_1251.013
Gestalt deutsch, weil nur in unserer Dichtung diese entstanden und pvi_1251.014
wahrhaft durchgeführt ist. Von der romanischen (und englischen) Poesie pvi_1251.015
nachher in Kürze das Nöthige. - Jener ursprünglich germanische Styl pvi_1251.016
bindet nun die Verse allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieses pvi_1251.017
rhythmische Gesetz steht aber schon ursprünglich in untrennbarem Zusammenhang pvi_1251.018
mit der Sprache, es vollstreckt sich also schlechthin nur im Einklange pvi_1251.019
mit dem Wort-Accent und so heißen die Accente Hebungen. Hebungen pvi_1251.020
sind Sylben, die in der Sprache an sich accentuirt sind und der Rhythmik pvi_1251.021
die geforderten Accente herstellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen pvi_1251.022
können zwischen die Hebungen in verschiedener Anzahl treten oder ganz pvi_1251.023
fehlen; das Gesetz gibt sie frei und es wird dadurch jene nach dem Unterschiede pvi_1251.024
des Sprach-Jnhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher pvi_1251.025
zu §. 858 die Rede war. Es wird also nicht gemessen, sondern gewogen, pvi_1251.026
die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, sie kommen aber als pvi_1251.027
solche schlechthin nicht in Betracht; die Hebung ist in allen Sylben, die pvi_1251.028
lang sind, wohl zugleich Länge, aber diese Seite geht die Rhythmik nichts pvi_1251.029
an, die Stufen, Modificationen, verschiedenen Stellungen der Länge zu pvi_1251.030
der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht erzeugen, pvi_1251.031
von welchen nachher die Rede sein wird, weil Metrum im eigentlichen pvi_1251.032
Sinne des Worts gar nicht besteht; ob z. B. Jahrhundert als pvi_1251.033
Amphibrachy's gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Dagegen pvi_1251.034
bereiten die verschiedenen Stufen der Betonung, da der starke wie pvi_1251.035
der schwache Ton sich noch in Grade theilt, gewisse Schwierigkeiten, in die pvi_1251.036
wir uns aber hier nicht einlassen können. Die Hebung gehört nun im pvi_1251.037
Wesentlichen der Wurzelsylbe an, gewisse Bildungssylben und stärkere Flexionssylben pvi_1251.038
treten daneben allerdings noch mit demselben Anspruch auf, doch ist pvi_1251.039
jenes das Entscheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die pvi_1251.040
Herrschaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des

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schen Schönheit fordert einen Ersatz; derselbe ist gegeben in dem malerischen pvi_1251.008
und der eigentlichen Musik näher verwandten Mittel des Reims.

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1. Wir nennen diesen Styl (dessen Spuren sich übrigens auch in dem pvi_1251.010
Saturnischen Verse der ältesten römischen Poesie und, wie zu §. 859 berührt pvi_1251.011
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[1251/0113] pvi_1251.001 Weise angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen pvi_1251.002 gelten und beide gezählt werden. Jndem sich aber daneben die natürlichen pvi_1251.003 Längen, verschiedene Stufen der Oetonung, die Verschiebung des Accents durch pvi_1251.004 Zusammensetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent pvi_1251.005 den Wort-Accent kreuzt, entsteht ein Gebilde, dessen Körper von dem Geiste, pvi_1251.006 der sich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen ist. Diese Brechung der plasti- pvi_1251.007 schen Schönheit fordert einen Ersatz; derselbe ist gegeben in dem malerischen pvi_1251.008 und der eigentlichen Musik näher verwandten Mittel des Reims. 3. pvi_1251.009 1. Wir nennen diesen Styl (dessen Spuren sich übrigens auch in dem pvi_1251.010 Saturnischen Verse der ältesten römischen Poesie und, wie zu §. 859 berührt pvi_1251.011 ist, im Hebräischen und Neupersischen finden) vorerst germanisch, weil pvi_1251.012 er dem Deutschen und Skandinavischen gemein ist, nachher in seiner veränderten pvi_1251.013 Gestalt deutsch, weil nur in unserer Dichtung diese entstanden und pvi_1251.014 wahrhaft durchgeführt ist. Von der romanischen (und englischen) Poesie pvi_1251.015 nachher in Kürze das Nöthige. – Jener ursprünglich germanische Styl pvi_1251.016 bindet nun die Verse allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieses pvi_1251.017 rhythmische Gesetz steht aber schon ursprünglich in untrennbarem Zusammenhang pvi_1251.018 mit der Sprache, es vollstreckt sich also schlechthin nur im Einklange pvi_1251.019 mit dem Wort-Accent und so heißen die Accente Hebungen. Hebungen pvi_1251.020 sind Sylben, die in der Sprache an sich accentuirt sind und der Rhythmik pvi_1251.021 die geforderten Accente herstellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen pvi_1251.022 können zwischen die Hebungen in verschiedener Anzahl treten oder ganz pvi_1251.023 fehlen; das Gesetz gibt sie frei und es wird dadurch jene nach dem Unterschiede pvi_1251.024 des Sprach-Jnhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher pvi_1251.025 zu §. 858 die Rede war. Es wird also nicht gemessen, sondern gewogen, pvi_1251.026 die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, sie kommen aber als pvi_1251.027 solche schlechthin nicht in Betracht; die Hebung ist in allen Sylben, die pvi_1251.028 lang sind, wohl zugleich Länge, aber diese Seite geht die Rhythmik nichts pvi_1251.029 an, die Stufen, Modificationen, verschiedenen Stellungen der Länge zu pvi_1251.030 der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht erzeugen, pvi_1251.031 von welchen nachher die Rede sein wird, weil Metrum im eigentlichen pvi_1251.032 Sinne des Worts gar nicht besteht; ob z. B. Jahrhundert als pvi_1251.033 Amphibrachy's gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Dagegen pvi_1251.034 bereiten die verschiedenen Stufen der Betonung, da der starke wie pvi_1251.035 der schwache Ton sich noch in Grade theilt, gewisse Schwierigkeiten, in die pvi_1251.036 wir uns aber hier nicht einlassen können. Die Hebung gehört nun im pvi_1251.037 Wesentlichen der Wurzelsylbe an, gewisse Bildungssylben und stärkere Flexionssylben pvi_1251.038 treten daneben allerdings noch mit demselben Anspruch auf, doch ist pvi_1251.039 jenes das Entscheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die pvi_1251.040 Herrschaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/113>, abgerufen am 21.11.2024.