Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1261.001 1. Wie die Dichtkunst den Charakter der bildenden und den der Musik pvi_1261.011 pvi_1261.001 1. Wie die Dichtkunst den Charakter der bildenden und den der Musik pvi_1261.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0123" n="1261"/><lb n="pvi_1261.001"/> hervor als ein Unterschied des Durchdringungsprocesses zwischen dem Jch des <lb n="pvi_1261.002"/> Dichters und seinem Gegenstande. So wiederholt sich in der Dichtkunst nicht nur <lb n="pvi_1261.003"/> <hi rendition="#g">das System der Künste,</hi> als deren Totalität sie sich nun bestimmter (vergl. <lb n="pvi_1261.004"/> §. 838) erweist, sondern zugleich <hi rendition="#g">das ganze System der Aesthetik.</hi> Mit<note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1261.005"/> diesem innersten Eintheilungsprinzip ist zugleich ein Unterschied im <hi rendition="#g">Grade <lb n="pvi_1261.006"/> des Umfangs</hi> und in der Art der <hi rendition="#g">Technik</hi> gegeben, aber die Geistigkeit <lb n="pvi_1261.007"/> der ganzen Kunst und ihres Mediums ist Ursache, daß die verschiedenen Hauptformen <lb n="pvi_1261.008"/> sich nicht als Künste ausscheiden, sondern nur als Zweige einer Kunst <lb n="pvi_1261.009"/> auftreten (vergl. §. 538).</p> <lb n="pvi_1261.010"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Wie die Dichtkunst den Charakter der bildenden und den der Musik <lb n="pvi_1261.011"/> in sich vereinigt, ist aufgezeigt worden. Es wiederholt sich hiedurch das <lb n="pvi_1261.012"/> System der Aesthetik in ihr, indem in der bildenden Kunst auf veränderter <lb n="pvi_1261.013"/> Stufe die Objectivität des Naturschönen, in der Musik die Subjectivität <lb n="pvi_1261.014"/> der Phantasie wiederkehrt, und ist so in ihrer concreten Totalität dieser <lb n="pvi_1261.015"/> Grundgegensatz schließlich zusammengefaßt. Allein nicht genug: der Kreis <lb n="pvi_1261.016"/> kehrt in der Poesie noch einmal in sich zurück, denn in ihren Zweigen <lb n="pvi_1261.017"/> wiederholt sich die Stellung, die in den verschiedenen Künsten der Künstler <lb n="pvi_1261.018"/> zum Object einnimmt, und zwar in einem Processe von solcher Entschiedenheit <lb n="pvi_1261.019"/> und Klarheit, daß die Wiederholung zugleich eine Vertiefung, eine <lb n="pvi_1261.020"/> vollere Verwirklichung ist und rückwärts das Entsprechende, was den Künsten <lb n="pvi_1261.021"/> im Großen zu Grunde liegt, in helleres Licht stellt. Auseinandergesetzt <lb n="pvi_1261.022"/> kann dieser Proceß in seinen Unterschieden noch nicht werden, ohne daß <lb n="pvi_1261.023"/> zu stark vorgegriffen wird, doch sagen wir in Kürze so viel: es wird sich <lb n="pvi_1261.024"/> zeigen, wie dem epischen Dichter die Welt eine gegebene, feste, objective <lb n="pvi_1261.025"/> Macht ist und bleibt, obwohl sein Jch neben dem Jnhalt sichtbar hervortritt <lb n="pvi_1261.026"/> und der Stimmung nach ruhig betrachtend über den Dingen schwebt, <lb n="pvi_1261.027"/> wie der lyrische die Welt ganz in subjectives Empfindungsleben umsetzt, <lb n="pvi_1261.028"/> wie der dramatische sie als eine nun subjectiv ganz durchdrungene oder in <lb n="pvi_1261.029"/> das Subject ganz eingegangene in der Form der Handlung wieder entläßt <lb n="pvi_1261.030"/> und entfaltet, so daß man sein Jch gar nicht wahrnimmt, weil es ganz <lb n="pvi_1261.031"/> darin, daß er ganz abwesend, weil ganz gegenwärtig ist. Jn diesen Wendungen <lb n="pvi_1261.032"/> des Verhältnisses scheidet sich denn zu bestimmten Hauptformen das, <lb n="pvi_1261.033"/> worin der Dichter dem bildenden Künstler, worin er dem Musiker verwandt <lb n="pvi_1261.034"/> und worin er ganz er selbst ist, und mit dieser Wiederkehr der Künste <lb n="pvi_1261.035"/> wiederholen sich in der Poesie abermals die entsprechenden Haupttheile des <lb n="pvi_1261.036"/> ganzen Systems: die Objectivität des Naturschönen, die Subjectivität der <lb n="pvi_1261.037"/> Phantasie und die erfüllte Einheit beider in der Kunst. Ohne Zwang <lb n="pvi_1261.038"/> läßt sich hinzusetzen: die Poesie kehre, indem sie so das Ganze des wirklichen <lb n="pvi_1261.039"/> Schönen in sich vertieft wiederholt, als die idealste Kunst in den ersten <lb n="pvi_1261.040"/> Theil des Systems, die reine, allgemeine Jdee des Schönen, zurück. – </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1261/0123]
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hervor als ein Unterschied des Durchdringungsprocesses zwischen dem Jch des pvi_1261.002
Dichters und seinem Gegenstande. So wiederholt sich in der Dichtkunst nicht nur pvi_1261.003
das System der Künste, als deren Totalität sie sich nun bestimmter (vergl. pvi_1261.004
§. 838) erweist, sondern zugleich das ganze System der Aesthetik. Mit pvi_1261.005
diesem innersten Eintheilungsprinzip ist zugleich ein Unterschied im Grade pvi_1261.006
des Umfangs und in der Art der Technik gegeben, aber die Geistigkeit pvi_1261.007
der ganzen Kunst und ihres Mediums ist Ursache, daß die verschiedenen Hauptformen pvi_1261.008
sich nicht als Künste ausscheiden, sondern nur als Zweige einer Kunst pvi_1261.009
auftreten (vergl. §. 538).
2. pvi_1261.010
1. Wie die Dichtkunst den Charakter der bildenden und den der Musik pvi_1261.011
in sich vereinigt, ist aufgezeigt worden. Es wiederholt sich hiedurch das pvi_1261.012
System der Aesthetik in ihr, indem in der bildenden Kunst auf veränderter pvi_1261.013
Stufe die Objectivität des Naturschönen, in der Musik die Subjectivität pvi_1261.014
der Phantasie wiederkehrt, und ist so in ihrer concreten Totalität dieser pvi_1261.015
Grundgegensatz schließlich zusammengefaßt. Allein nicht genug: der Kreis pvi_1261.016
kehrt in der Poesie noch einmal in sich zurück, denn in ihren Zweigen pvi_1261.017
wiederholt sich die Stellung, die in den verschiedenen Künsten der Künstler pvi_1261.018
zum Object einnimmt, und zwar in einem Processe von solcher Entschiedenheit pvi_1261.019
und Klarheit, daß die Wiederholung zugleich eine Vertiefung, eine pvi_1261.020
vollere Verwirklichung ist und rückwärts das Entsprechende, was den Künsten pvi_1261.021
im Großen zu Grunde liegt, in helleres Licht stellt. Auseinandergesetzt pvi_1261.022
kann dieser Proceß in seinen Unterschieden noch nicht werden, ohne daß pvi_1261.023
zu stark vorgegriffen wird, doch sagen wir in Kürze so viel: es wird sich pvi_1261.024
zeigen, wie dem epischen Dichter die Welt eine gegebene, feste, objective pvi_1261.025
Macht ist und bleibt, obwohl sein Jch neben dem Jnhalt sichtbar hervortritt pvi_1261.026
und der Stimmung nach ruhig betrachtend über den Dingen schwebt, pvi_1261.027
wie der lyrische die Welt ganz in subjectives Empfindungsleben umsetzt, pvi_1261.028
wie der dramatische sie als eine nun subjectiv ganz durchdrungene oder in pvi_1261.029
das Subject ganz eingegangene in der Form der Handlung wieder entläßt pvi_1261.030
und entfaltet, so daß man sein Jch gar nicht wahrnimmt, weil es ganz pvi_1261.031
darin, daß er ganz abwesend, weil ganz gegenwärtig ist. Jn diesen Wendungen pvi_1261.032
des Verhältnisses scheidet sich denn zu bestimmten Hauptformen das, pvi_1261.033
worin der Dichter dem bildenden Künstler, worin er dem Musiker verwandt pvi_1261.034
und worin er ganz er selbst ist, und mit dieser Wiederkehr der Künste pvi_1261.035
wiederholen sich in der Poesie abermals die entsprechenden Haupttheile des pvi_1261.036
ganzen Systems: die Objectivität des Naturschönen, die Subjectivität der pvi_1261.037
Phantasie und die erfüllte Einheit beider in der Kunst. Ohne Zwang pvi_1261.038
läßt sich hinzusetzen: die Poesie kehre, indem sie so das Ganze des wirklichen pvi_1261.039
Schönen in sich vertieft wiederholt, als die idealste Kunst in den ersten pvi_1261.040
Theil des Systems, die reine, allgemeine Jdee des Schönen, zurück. –
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