Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1265.001 a. Die epische Dichtung. pvi_1265.0021. Jhr Wesen. pvi_1265.003§. 865. pvi_1265.004Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005 Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013 pvi_1265.001 α. Die epische Dichtung. pvi_1265.0021. Jhr Wesen. pvi_1265.003§. 865. pvi_1265.004Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005 Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0127" n="1265"/> </div> <div n="2"> <lb n="pvi_1265.001"/> <head> <hi rendition="#c"><foreign xml:lang="grc">α</foreign>. <hi rendition="#g">Die epische Dichtung.</hi></hi> </head> <lb n="pvi_1265.002"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#c">1. Jhr Wesen.</hi> </head> <lb n="pvi_1265.003"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 865.</hi> </p> <lb n="pvi_1265.004"/> <p> Jm Charakter der <hi rendition="#g">Objectivität,</hi> der vollen und scharfen Absonderung <lb n="pvi_1265.005"/> vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der <lb n="pvi_1265.006"/> Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als <lb n="pvi_1265.007"/> eine <hi rendition="#g">vergangene Begebenheit erzählt.</hi> Als Erzähler bleibt er aber <lb n="pvi_1265.008"/> neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit <lb n="pvi_1265.009"/> sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und <lb n="pvi_1265.010"/> weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges <lb n="pvi_1265.011"/> Leben des Gegenstands.</p> <lb n="pvi_1265.012"/> <p> <hi rendition="#et"> Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler <lb n="pvi_1265.013"/> in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff <lb n="pvi_1265.014"/> in seine Phantasie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiselt, <lb n="pvi_1265.015"/> malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener, <lb n="pvi_1265.016"/> räumlicher Gegenüberstellung vor den Zuschauer tritt. Jetzt ist der <lb n="pvi_1265.017"/> Künstler verschwunden, er hat sein Werk stehen lassen, wir finden es im <lb n="pvi_1265.018"/> Raume vor wie ein schönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei <lb n="pvi_1265.019"/> seinem Werke; er ist thatsächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet <lb n="pvi_1265.020"/> hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder <lb n="pvi_1265.021"/> mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat <lb n="pvi_1265.022"/> er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende <lb n="pvi_1265.023"/> sind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Vergangenes <lb n="pvi_1265.024"/> vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den <lb n="pvi_1265.025"/> Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm so verwandte bildende <lb n="pvi_1265.026"/> Künstler schweigend sein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher <lb n="pvi_1265.027"/> heißt diese Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwischen <lb n="pvi_1265.028"/> dem Dichter und dem Jnhalt im Epos das einer naiven Synthese, weil <lb n="pvi_1265.029"/> bei diesem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht gefragt <lb n="pvi_1265.030"/> wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Jnhalts sei; <lb n="pvi_1265.031"/> genug, sein Subject ist da. Soll sein Werk in emphatischem Sinn objectiv <lb n="pvi_1265.032"/> heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo <lb n="pvi_1265.033"/> liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächst ist es die Vergangenheit <lb n="pvi_1265.034"/> des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit sich bringt. <lb n="pvi_1265.035"/> Das Vergangene ist fertig, abgesondert vom Subjecte, tritt in beschlossenem <lb n="pvi_1265.036"/> Gegenschlag ihm gegenüber. Hiemit steht aber im innigsten Zusammenhange </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1265/0127]
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α. Die epische Dichtung. pvi_1265.002
1. Jhr Wesen. pvi_1265.003
§. 865.
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Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung pvi_1265.005
vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der pvi_1265.006
Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als pvi_1265.007
eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber pvi_1265.008
neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit pvi_1265.009
sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und pvi_1265.010
weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges pvi_1265.011
Leben des Gegenstands.
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Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler pvi_1265.013
in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff pvi_1265.014
in seine Phantasie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiselt, pvi_1265.015
malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener, pvi_1265.016
räumlicher Gegenüberstellung vor den Zuschauer tritt. Jetzt ist der pvi_1265.017
Künstler verschwunden, er hat sein Werk stehen lassen, wir finden es im pvi_1265.018
Raume vor wie ein schönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei pvi_1265.019
seinem Werke; er ist thatsächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet pvi_1265.020
hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder pvi_1265.021
mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat pvi_1265.022
er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende pvi_1265.023
sind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Vergangenes pvi_1265.024
vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den pvi_1265.025
Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm so verwandte bildende pvi_1265.026
Künstler schweigend sein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher pvi_1265.027
heißt diese Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwischen pvi_1265.028
dem Dichter und dem Jnhalt im Epos das einer naiven Synthese, weil pvi_1265.029
bei diesem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht gefragt pvi_1265.030
wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Jnhalts sei; pvi_1265.031
genug, sein Subject ist da. Soll sein Werk in emphatischem Sinn objectiv pvi_1265.032
heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo pvi_1265.033
liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächst ist es die Vergangenheit pvi_1265.034
des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit sich bringt. pvi_1265.035
Das Vergangene ist fertig, abgesondert vom Subjecte, tritt in beschlossenem pvi_1265.036
Gegenschlag ihm gegenüber. Hiemit steht aber im innigsten Zusammenhange
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