Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1302.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0164" n="1302"/><lb n="pvi_1302.001"/> angehören und volksthümlicher Natur sind. Dante ist ungleich <lb n="pvi_1302.002"/> gebundener in seinem Bewußtsein, wäre es nur an eine reale Weltanschauung, <lb n="pvi_1302.003"/> so stünde Alles gut, und daß ächte Freiheit, epische Gleichheit des Gemüths <lb n="pvi_1302.004"/> mit dieser Bindung vereinbar sei, haben wir gesehen. <hi rendition="#g">Ariost</hi> aber bewegt <lb n="pvi_1302.005"/> sich schwebend in einer Freiheit des Spieles, in welcher die wahrhaft epische <lb n="pvi_1302.006"/> Einheit von Ernst und milder Jronie völlig aufgelöst ist. Mit dieser <lb n="pvi_1302.007"/> Stimmung ergreift er den mährchenhaften Theil der Carls-Sage ohne jede <lb n="pvi_1302.008"/> Pietät für den Stoff und läßt ihn zu einem melodischen Bilder-Labyrinth <lb n="pvi_1302.009"/> aufquellen, das denselben Genuß gewährt, wie das sinnlich heitere Wiegen <lb n="pvi_1302.010"/> und Schaukeln italienischer Musik. Die feste Zeichnung, welche das Epos <lb n="pvi_1302.011"/> fordert, zerfließt in nie ruhendem Rinnen der Gestalten, die fruchtbarste <lb n="pvi_1302.012"/> Erfindung und die lebendigste sinnliche Vergegenwärtigung, ächt epische <lb n="pvi_1302.013"/> Kräfte, wirken nicht episch, weil kein Bild verweilt, und das Gesetz der <lb n="pvi_1302.014"/> retardirenden Unterbrechungen wird ironisch zu solcher Neckerei der immer <lb n="pvi_1302.015"/> sich verlierenden, immer wieder hervortauchenden Linie gesteigert, daß man <lb n="pvi_1302.016"/> sich lächelnd trotz allem südlichen Sinnenreize des Stoffs und Gewichte der <lb n="pvi_1302.017"/> vereinzelten ernsten Stellen im reinen Zustande stoffloser Bewegungslust <lb n="pvi_1302.018"/> befindet: ein künstlerisch entfaltetes, ausgedehntes Mährchen, wozu auch <lb n="pvi_1302.019"/> Ovid ein gutes Theil des Vorbilds gegeben, gewiß kein Epos. Daß das <lb n="pvi_1302.020"/> Exotische Haupt-Jnhalt ist, liegt in der Natur eines solchen Spiels. – <lb n="pvi_1302.021"/> Der ernste <hi rendition="#g">Tasso</hi> knüpft die romantischen Sagen an die große, welthistorische <lb n="pvi_1302.022"/> That der Kreuzzüge. Er folgt in diesem Theile der Geschichte; das <lb n="pvi_1302.023"/> ächte Epos aber ruht auf Sage, die den geschichtlichen Stoff typisch umgebildet, <lb n="pvi_1302.024"/> idealisirt hat. Die Begeisterung für den Jnhalt ist da, aber, da <lb n="pvi_1302.025"/> derselbe sich in Wahrheit ausgelebt hat, doch fühlbar angespannt und nach <lb n="pvi_1302.026"/> der andern Seite im Pathos für die glatte Formschönheit verhauchend, so <lb n="pvi_1302.027"/> daß man mitten in ihrer Anerkennung von Kälte angeweht wird. Ariost's <lb n="pvi_1302.028"/> behagliche Leichtigkeit ist naturvoller, als diese classische Anspannung. Er <lb n="pvi_1302.029"/> ist immer bequem, ganz Jtaliener und in diesem Sinne ganz naiv. Man <lb n="pvi_1302.030"/> fühlt nicht eine Absicht, den Virgil zu erreichen, und sein Gedicht kann <lb n="pvi_1302.031"/> weit eher als eine wahre Spezies angesehen werden, wenn man sie nur <lb n="pvi_1302.032"/> nicht als Epos, sondern, wie wir sie genannt, als episch entwickeltes <lb n="pvi_1302.033"/> Mährchen faßt. Tasso ist Nachahmer bis zur Copie einzelner Stellen Virgil's <lb n="pvi_1302.034"/> und anderer Classiker. Ueberhaupt jedoch entweicht bei diesen Jtalienern <lb n="pvi_1302.035"/> durchgängig ein gutes Theil der innern Wärme in die rhythmische <lb n="pvi_1302.036"/> Form. Die Stanze ist zu sehr für sich künstlich schön, um nicht die Hälfte <lb n="pvi_1302.037"/> des Jnteresses zu Gunsten der formellen Seite zu absorbiren, und speziell <lb n="pvi_1302.038"/> für das Epos im Reimsystem ihrer Strophe zu lyrisch musikalisch. Die <lb n="pvi_1302.039"/> Terzine Dante's ist epischer durch die Bindung, welche je die Mitte der <lb n="pvi_1302.040"/> vorhergehenden Strophe für die zwei äußern Zeilen der folgenden verwendet, <lb n="pvi_1302.041"/> aber offenbar auch zu künstlich, zu schwer und dadurch eine weitere Ursache </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1302/0164]
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angehören und volksthümlicher Natur sind. Dante ist ungleich pvi_1302.002
gebundener in seinem Bewußtsein, wäre es nur an eine reale Weltanschauung, pvi_1302.003
so stünde Alles gut, und daß ächte Freiheit, epische Gleichheit des Gemüths pvi_1302.004
mit dieser Bindung vereinbar sei, haben wir gesehen. Ariost aber bewegt pvi_1302.005
sich schwebend in einer Freiheit des Spieles, in welcher die wahrhaft epische pvi_1302.006
Einheit von Ernst und milder Jronie völlig aufgelöst ist. Mit dieser pvi_1302.007
Stimmung ergreift er den mährchenhaften Theil der Carls-Sage ohne jede pvi_1302.008
Pietät für den Stoff und läßt ihn zu einem melodischen Bilder-Labyrinth pvi_1302.009
aufquellen, das denselben Genuß gewährt, wie das sinnlich heitere Wiegen pvi_1302.010
und Schaukeln italienischer Musik. Die feste Zeichnung, welche das Epos pvi_1302.011
fordert, zerfließt in nie ruhendem Rinnen der Gestalten, die fruchtbarste pvi_1302.012
Erfindung und die lebendigste sinnliche Vergegenwärtigung, ächt epische pvi_1302.013
Kräfte, wirken nicht episch, weil kein Bild verweilt, und das Gesetz der pvi_1302.014
retardirenden Unterbrechungen wird ironisch zu solcher Neckerei der immer pvi_1302.015
sich verlierenden, immer wieder hervortauchenden Linie gesteigert, daß man pvi_1302.016
sich lächelnd trotz allem südlichen Sinnenreize des Stoffs und Gewichte der pvi_1302.017
vereinzelten ernsten Stellen im reinen Zustande stoffloser Bewegungslust pvi_1302.018
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Ovid ein gutes Theil des Vorbilds gegeben, gewiß kein Epos. Daß das pvi_1302.020
Exotische Haupt-Jnhalt ist, liegt in der Natur eines solchen Spiels. – pvi_1302.021
Der ernste Tasso knüpft die romantischen Sagen an die große, welthistorische pvi_1302.022
That der Kreuzzüge. Er folgt in diesem Theile der Geschichte; das pvi_1302.023
ächte Epos aber ruht auf Sage, die den geschichtlichen Stoff typisch umgebildet, pvi_1302.024
idealisirt hat. Die Begeisterung für den Jnhalt ist da, aber, da pvi_1302.025
derselbe sich in Wahrheit ausgelebt hat, doch fühlbar angespannt und nach pvi_1302.026
der andern Seite im Pathos für die glatte Formschönheit verhauchend, so pvi_1302.027
daß man mitten in ihrer Anerkennung von Kälte angeweht wird. Ariost's pvi_1302.028
behagliche Leichtigkeit ist naturvoller, als diese classische Anspannung. Er pvi_1302.029
ist immer bequem, ganz Jtaliener und in diesem Sinne ganz naiv. Man pvi_1302.030
fühlt nicht eine Absicht, den Virgil zu erreichen, und sein Gedicht kann pvi_1302.031
weit eher als eine wahre Spezies angesehen werden, wenn man sie nur pvi_1302.032
nicht als Epos, sondern, wie wir sie genannt, als episch entwickeltes pvi_1302.033
Mährchen faßt. Tasso ist Nachahmer bis zur Copie einzelner Stellen Virgil's pvi_1302.034
und anderer Classiker. Ueberhaupt jedoch entweicht bei diesen Jtalienern pvi_1302.035
durchgängig ein gutes Theil der innern Wärme in die rhythmische pvi_1302.036
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für das Epos im Reimsystem ihrer Strophe zu lyrisch musikalisch. Die pvi_1302.039
Terzine Dante's ist epischer durch die Bindung, welche je die Mitte der pvi_1302.040
vorhergehenden Strophe für die zwei äußern Zeilen der folgenden verwendet, pvi_1302.041
aber offenbar auch zu künstlich, zu schwer und dadurch eine weitere Ursache
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