Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1346.001 2. Es folgt zunächst aus dem mythischen Charakter des Hymnischen, pvi_1346.029
pvi_1346.001 2. Es folgt zunächst aus dem mythischen Charakter des Hymnischen, pvi_1346.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0208" n="1346"/><lb n="pvi_1346.001"/> Personbildung einträte: die Vollziehung dieses Schrittes scheint immer in <lb n="pvi_1346.002"/> nächster Nähe zu schweben, wie in Hölderlin's herrlicher Hymne an den <lb n="pvi_1346.003"/> Aether ohne ausdrückliche Personification die Alles umspannende, nährende, <lb n="pvi_1346.004"/> labende Naturpotenz zu einem Gott wird. Dieß verändert sich nicht, wenn <lb n="pvi_1346.005"/> Fürsten, Helden, Landschaften, Städte, Handlungen, furchtbare Ereignisse, <lb n="pvi_1346.006"/> einzelne gewaltige Natur-Erscheinungen besungen werden: sie wachsen in <lb n="pvi_1346.007"/> der ganzen Auffassung und Behandlung, sowie durch die speziellern Anknüpfungen <lb n="pvi_1346.008"/> an absolute Mächte, an Götter, selbst zu Göttern an, der Weg <lb n="pvi_1346.009"/> ist nach dieser Seite hin nur so zu sagen analytisch, bei der unmittelbaren <lb n="pvi_1346.010"/> Wendung an das Göttliche synthetisch. Keineswegs wird nun durch die <lb n="pvi_1346.011"/> Objectivität in diesem Sinn einer erhabenen Form das Lyrische aufgehoben; <lb n="pvi_1346.012"/> vielmehr gerade weil vor der Uebermacht des Gegenstands das Subject zu <lb n="pvi_1346.013"/> verschwinden droht, weil sie auf sein Empfindungsleben drückt, so ringt <lb n="pvi_1346.014"/> dieß, in seinen Tiefen erschüttert und aufgeboten, um so gewaltiger und <lb n="pvi_1346.015"/> schwellt sich an, dem Gegenstande näher zu kommen und ihn so zu bewältigen, <lb n="pvi_1346.016"/> daß seine unendliche Größe als ganz vom Dichter empfunden erscheint, <lb n="pvi_1346.017"/> es bewegt sich um ihn, häuft Prädicat auf Prädicat, muß aber doch am <lb n="pvi_1346.018"/> Ende gestehen, daß es ihn nicht erschöpft hat, wie Haller am Schlusse <lb n="pvi_1346.019"/> seiner Hymne auf die Ewigkeit von dieser sagt: er ziehe die Millionen <lb n="pvi_1346.020"/> Zahlen ab und sie stehe ganz vor ihm; so löst sich der Versuch der Bewältigung <lb n="pvi_1346.021"/> schließlich in die reine Ausrufung auf und das Verstummen in <lb n="pvi_1346.022"/> dieser ist eben ächt lyrisch. Es bleibt bei einem Hinan- und Hinaufsingen <lb n="pvi_1346.023"/> an den Gegenstand. Dieß ist ein Tadel, wenn man vom Lyrischen überhaupt <lb n="pvi_1346.024"/> spricht, nicht, wenn es in besonderem Sinne von einer seiner Formen <lb n="pvi_1346.025"/> aussagt. Nur wo diese Form einseitig in einer ganzen Epoche, wie in <lb n="pvi_1346.026"/> der Zeit nach Klopstock herrscht, erscheint sie als Mangel. Sie hat das <lb n="pvi_1346.027"/> ganze Recht des Erhabenen.</hi> </p> <lb n="pvi_1346.028"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Es folgt zunächst aus dem mythischen Charakter des Hymnischen, <lb n="pvi_1346.029"/> daß dasselbe vorzüglich der classischen Lyrik als naturgemäßes Element <lb n="pvi_1346.030"/> entspricht. Der Begriff des Objectiven, wie er dieser Gattung des Lyrischen <lb n="pvi_1346.031"/> zu Grunde liegt, ist zwar, wie wir zum vorh. §. gezeigt haben, von <lb n="pvi_1346.032"/> der allgemeinen ästhetischen Bedeutung, wie wir ihn sonst anwenden, verschieden, <lb n="pvi_1346.033"/> allein unbeschadet dieses Unterschieds tritt hier nothwendig ein <lb n="pvi_1346.034"/> inniger Zusammenhang ein: eine Lyrik, die dem Verhalten des Bewußtseins <lb n="pvi_1346.035"/> nach ihren Jnhalt objectiv außer und über sich behält, wird vorzüglich von <lb n="pvi_1346.036"/> demjenigen Kunststyle ausgebildet werden, der überall im Sinne der bildenden <lb n="pvi_1346.037"/> Kunst, und zwar der Sculptur, und im Sinne der bildend dichtenden <lb n="pvi_1346.038"/> Phantasie, also der epischen Form, auf klare Gestaltung und Schönheit der <lb n="pvi_1346.039"/> einzelnen Gestalt dringt. Es kann sich fragen, ob eine solche Art der Phantasie <lb n="pvi_1346.040"/> überhaupt Beruf zur lyrischen Dichtung habe, die Antwort wird aber <lb n="pvi_1346.041"/> sein, es werde sich ähnlich verhalten, wie mit der Malerei, welche diesem </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1346/0208]
pvi_1346.001
Personbildung einträte: die Vollziehung dieses Schrittes scheint immer in pvi_1346.002
nächster Nähe zu schweben, wie in Hölderlin's herrlicher Hymne an den pvi_1346.003
Aether ohne ausdrückliche Personification die Alles umspannende, nährende, pvi_1346.004
labende Naturpotenz zu einem Gott wird. Dieß verändert sich nicht, wenn pvi_1346.005
Fürsten, Helden, Landschaften, Städte, Handlungen, furchtbare Ereignisse, pvi_1346.006
einzelne gewaltige Natur-Erscheinungen besungen werden: sie wachsen in pvi_1346.007
der ganzen Auffassung und Behandlung, sowie durch die speziellern Anknüpfungen pvi_1346.008
an absolute Mächte, an Götter, selbst zu Göttern an, der Weg pvi_1346.009
ist nach dieser Seite hin nur so zu sagen analytisch, bei der unmittelbaren pvi_1346.010
Wendung an das Göttliche synthetisch. Keineswegs wird nun durch die pvi_1346.011
Objectivität in diesem Sinn einer erhabenen Form das Lyrische aufgehoben; pvi_1346.012
vielmehr gerade weil vor der Uebermacht des Gegenstands das Subject zu pvi_1346.013
verschwinden droht, weil sie auf sein Empfindungsleben drückt, so ringt pvi_1346.014
dieß, in seinen Tiefen erschüttert und aufgeboten, um so gewaltiger und pvi_1346.015
schwellt sich an, dem Gegenstande näher zu kommen und ihn so zu bewältigen, pvi_1346.016
daß seine unendliche Größe als ganz vom Dichter empfunden erscheint, pvi_1346.017
es bewegt sich um ihn, häuft Prädicat auf Prädicat, muß aber doch am pvi_1346.018
Ende gestehen, daß es ihn nicht erschöpft hat, wie Haller am Schlusse pvi_1346.019
seiner Hymne auf die Ewigkeit von dieser sagt: er ziehe die Millionen pvi_1346.020
Zahlen ab und sie stehe ganz vor ihm; so löst sich der Versuch der Bewältigung pvi_1346.021
schließlich in die reine Ausrufung auf und das Verstummen in pvi_1346.022
dieser ist eben ächt lyrisch. Es bleibt bei einem Hinan- und Hinaufsingen pvi_1346.023
an den Gegenstand. Dieß ist ein Tadel, wenn man vom Lyrischen überhaupt pvi_1346.024
spricht, nicht, wenn es in besonderem Sinne von einer seiner Formen pvi_1346.025
aussagt. Nur wo diese Form einseitig in einer ganzen Epoche, wie in pvi_1346.026
der Zeit nach Klopstock herrscht, erscheint sie als Mangel. Sie hat das pvi_1346.027
ganze Recht des Erhabenen.
pvi_1346.028
2. Es folgt zunächst aus dem mythischen Charakter des Hymnischen, pvi_1346.029
daß dasselbe vorzüglich der classischen Lyrik als naturgemäßes Element pvi_1346.030
entspricht. Der Begriff des Objectiven, wie er dieser Gattung des Lyrischen pvi_1346.031
zu Grunde liegt, ist zwar, wie wir zum vorh. §. gezeigt haben, von pvi_1346.032
der allgemeinen ästhetischen Bedeutung, wie wir ihn sonst anwenden, verschieden, pvi_1346.033
allein unbeschadet dieses Unterschieds tritt hier nothwendig ein pvi_1346.034
inniger Zusammenhang ein: eine Lyrik, die dem Verhalten des Bewußtseins pvi_1346.035
nach ihren Jnhalt objectiv außer und über sich behält, wird vorzüglich von pvi_1346.036
demjenigen Kunststyle ausgebildet werden, der überall im Sinne der bildenden pvi_1346.037
Kunst, und zwar der Sculptur, und im Sinne der bildend dichtenden pvi_1346.038
Phantasie, also der epischen Form, auf klare Gestaltung und Schönheit der pvi_1346.039
einzelnen Gestalt dringt. Es kann sich fragen, ob eine solche Art der Phantasie pvi_1346.040
überhaupt Beruf zur lyrischen Dichtung habe, die Antwort wird aber pvi_1346.041
sein, es werde sich ähnlich verhalten, wie mit der Malerei, welche diesem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |