Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1355.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0217" n="1355"/><lb n="pvi_1355.001"/> lebensfrohen Spiele, zum freieren Schweben. Dieser ächt lyrische <lb n="pvi_1355.002"/> Ton des classischen Styls ist nun aber schon darum mehr mit episch objectiven <lb n="pvi_1355.003"/> Elementen getränkt, weil jede Lebensmacht in Göttern angeschaut wird, <lb n="pvi_1355.004"/> im Gott aber die innere Erregung immer wieder als herausgenommen aus <lb n="pvi_1355.005"/> dem Jnnern des Menschen, als gegenständliche Erscheinung sich hinstellt. <lb n="pvi_1355.006"/> Freilich fallen die ausdrücklich epischen Theile der hymnischen Poesie, die entwickelten <lb n="pvi_1355.007"/> Schilderungen weg, aber das Gefühl selbst entfaltet sich an dem Bande <lb n="pvi_1355.008"/> der klaren Göttervorstellung in bestimmtem, hellem Bilde, deutet nicht, zurücksinkend <lb n="pvi_1355.009"/> von dem Versuche, sich auszusprechen, dunkel träumend auf noch <lb n="pvi_1355.010"/> unausgesprochene, unerschöpfliche Tiefen, es verläuft plan, bis es in seiner <lb n="pvi_1355.011"/> Darstellung gesättigt ist. Ebendarum ist das Gedanken-Element auch hier <lb n="pvi_1355.012"/> durchaus stärker, als in dem neueren Liede, es spricht sich über Zeitläufe, <lb n="pvi_1355.013"/> Göttermacht, Lebensgrundsätze direct in Sätzen aus, die wie feste Pfeiler <lb n="pvi_1355.014"/> im lyrischen Wellenspiele stehen. Der sympathetische Trieb des Liedes sprach <lb n="pvi_1355.015"/> sich unter And. in der besondern Form der Lieder beim geselligen Mahle, <lb n="pvi_1355.016"/> den Skolien, aus. – Der lyrischen Poesie der romanischen Völker werden <lb n="pvi_1355.017"/> wir ihren bedeutendsten Platz an einer andern Stelle anweisen; doch fehlt <lb n="pvi_1355.018"/> ihnen nicht das rein gefühlte, frischweg gesungene Lied, obwohl es in der <lb n="pvi_1355.019"/> Kunstpoesie, wenigstens Spaniens und Jtaliens, durch Ausbildung jener <lb n="pvi_1355.020"/> verschlungenen Formen, die einen andern Ton, als den des Liedes, mit sich <lb n="pvi_1355.021"/> bringen, frühe fast ganz verschwindet. Was man nun hier ächt liederartig <lb n="pvi_1355.022"/> nennen kann, hat allerdings auch das schöne Helldunkel, das träumerisch <lb n="pvi_1355.023"/> Andeutende, was die Empfindungssprache der neueren Völker von jener der <lb n="pvi_1355.024"/> alten unterscheidet; wir erinnern statt unzähliger anderer Züge nur an das <lb n="pvi_1355.025"/> italienische Lied, das Göthe im „Nachtgesange“ nachgebildet hat, und seinen <lb n="pvi_1355.026"/> so ächt lyrisch in's dunkel Gefühlte verschwebenden Refrain: <hi rendition="#aq">dormi, che <lb n="pvi_1355.027"/> vuoi di piu</hi>? Doch verbirgt sich auch in diesem Gebiete die Verwandtschaft <lb n="pvi_1355.028"/> der romanischen Völker mit der classischen Anschauung nicht; es ist im <lb n="pvi_1355.029"/> Ganzen und Großen Alles mehr heraus am hellen Sonnenlichte, schon die <lb n="pvi_1355.030"/> Sprache bringt den offenern Klang, das vom Jnnern gelöstere Bild, und <lb n="pvi_1355.031"/> der Vers neigt doch überall schon zu den Verschlingungen, die ein Wohlgefallen <lb n="pvi_1355.032"/> an der Form für sich ausdrücken. Die Franzosen bewegen sich <lb n="pvi_1355.033"/> auch in der Kunstpoesie anmuthig im leichten Liede, im <hi rendition="#aq">chanson</hi>, aber die <lb n="pvi_1355.034"/> Leichtigkeit hat hier auch die Bedeutung des spielenden Leichtsinnes, der <lb n="pvi_1355.035"/> nichts tief nimmt. Der liebenswürdige B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger, lebensheiter wie Anakreon <lb n="pvi_1355.036"/> und doch warm für jedes Große, vor Allem für die Freiheit, aber bei alledem <lb n="pvi_1355.037"/> ohne eine gewisse letzte Resonanz, die nur das Gemüth der germanischen <lb n="pvi_1355.038"/> Völker kennt, ist das reinste Bild der französischen Gefühlsweise. Die <lb n="pvi_1355.039"/> ganze Gewalt der dunkel verzitternden Tiefe gehört dem deutschen und <lb n="pvi_1355.040"/> englischen Liede und zwar dem Kunstliede wie dem Volksliede. Solche <lb n="pvi_1355.041"/> hingehauchte Strophen, solches tiefe Ahnen wie in Göthe's „Wonne der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1355/0217]
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lebensfrohen Spiele, zum freieren Schweben. Dieser ächt lyrische pvi_1355.002
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im Gott aber die innere Erregung immer wieder als herausgenommen aus pvi_1355.005
dem Jnnern des Menschen, als gegenständliche Erscheinung sich hinstellt. pvi_1355.006
Freilich fallen die ausdrücklich epischen Theile der hymnischen Poesie, die entwickelten pvi_1355.007
Schilderungen weg, aber das Gefühl selbst entfaltet sich an dem Bande pvi_1355.008
der klaren Göttervorstellung in bestimmtem, hellem Bilde, deutet nicht, zurücksinkend pvi_1355.009
von dem Versuche, sich auszusprechen, dunkel träumend auf noch pvi_1355.010
unausgesprochene, unerschöpfliche Tiefen, es verläuft plan, bis es in seiner pvi_1355.011
Darstellung gesättigt ist. Ebendarum ist das Gedanken-Element auch hier pvi_1355.012
durchaus stärker, als in dem neueren Liede, es spricht sich über Zeitläufe, pvi_1355.013
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im lyrischen Wellenspiele stehen. Der sympathetische Trieb des Liedes sprach pvi_1355.015
sich unter And. in der besondern Form der Lieder beim geselligen Mahle, pvi_1355.016
den Skolien, aus. – Der lyrischen Poesie der romanischen Völker werden pvi_1355.017
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alten unterscheidet; wir erinnern statt unzähliger anderer Züge nur an das pvi_1355.025
italienische Lied, das Göthe im „Nachtgesange“ nachgebildet hat, und seinen pvi_1355.026
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an der Form für sich ausdrücken. Die Franzosen bewegen sich pvi_1355.033
auch in der Kunstpoesie anmuthig im leichten Liede, im chanson, aber die pvi_1355.034
Leichtigkeit hat hier auch die Bedeutung des spielenden Leichtsinnes, der pvi_1355.035
nichts tief nimmt. Der liebenswürdige Béranger, lebensheiter wie Anakreon pvi_1355.036
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ganze Gewalt der dunkel verzitternden Tiefe gehört dem deutschen und pvi_1355.040
englischen Liede und zwar dem Kunstliede wie dem Volksliede. Solche pvi_1355.041
hingehauchte Strophen, solches tiefe Ahnen wie in Göthe's „Wonne der
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