Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1357.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0219" n="1357"/><lb n="pvi_1357.001"/> war, das Lyrische, zur stillen Pflege, die, in ihrem Thun wesentlich um <lb n="pvi_1357.002"/> keine Belauschung wissend, endlich doch belauscht wird und ihr schönes, <lb n="pvi_1357.003"/> heimliches Werk in den Garten der Oeffentlichkeit hinübergetragen sieht. <lb n="pvi_1357.004"/> Was heißt Volk, wenn man vom Volksliede spricht? Es ist ursprünglich, <lb n="pvi_1357.005"/> ehe diejenige Bildung eintrat, welche die Stände nicht nur nach Besitz, <lb n="pvi_1357.006"/> Macht, Recht, Geschäft, Würde, sondern nach der ganzen Form des Bewußtseins <lb n="pvi_1357.007"/> trennt, die gesammte Nation. Da ist kein Unterschied des poetischen <lb n="pvi_1357.008"/> Urtheils; dasselbe Lied entzückt Bauern, Handwerker, Adel, Geistliche, Fürsten. <lb n="pvi_1357.009"/> Nachdem nun diese Trennung eingetreten ist, heißt der Theil der Nation, <lb n="pvi_1357.010"/> der von den geistigen Mitteln ausgeschlossen ist, durch welche die Bildung <lb n="pvi_1357.011"/> als die bewußtere und vermitteltere Erfassung seiner selbst und der Welt <lb n="pvi_1357.012"/> erarbeitet wird, das Volk. Allein dieser Theil ist das, was einst Alle waren, <lb n="pvi_1357.013"/> die Substanz und der mütterliche Boden, worüber die gebildeten Stände <lb n="pvi_1357.014"/> hinausgewachsen sind, aus dem sie aber kommen. Von denjenigen, die in <lb n="pvi_1357.015"/> unbestimmter Mitte stehen, nicht mehr naiv und doch nicht gründlich gebildet <lb n="pvi_1357.016"/> oder durch Noth abgestumpft und verwildert sind oder das Raffinirte <lb n="pvi_1357.017"/> der Bildung ohne ihr Gegengift sich angeeignet haben, ist nicht die Rede, <lb n="pvi_1357.018"/> sondern von der Masse, die in der alten, einfachen Sitte wurzelt, die ihre <lb n="pvi_1357.019"/> Bildung auch hat, aber eine solche, welche der die Kluft bedingenden Bildung <lb n="pvi_1357.020"/> gegenüber Natur ist. Diese ganze Schichte lebt ein vergleichungsweise <lb n="pvi_1357.021"/> unbewußtes Leben und weil die lyrische Poesie wesentlich ein Erzeugniß <lb n="pvi_1357.022"/> nicht des hellwachen, sondern des als Seele in Natur versenkten, ahnenden <lb n="pvi_1357.023"/> Geistes ist, so liegt gerade hier ein besonderer Beruf zu dieser Dichtart, <lb n="pvi_1357.024"/> dessen reichere Erfüllung nur wartet, bis die dämmernde Volksseele vom <lb n="pvi_1357.025"/> schärferen Geiste der Erfahrung angeweht wird, ohne doch ganz zum Tageslichte <lb n="pvi_1357.026"/> der Reflexion aufgerüttelt zu werden. Jn diesem Boden erwächst nun <lb n="pvi_1357.027"/> jene Kunst ohne Kunst, deren Grundzug die Schönheit der Unschuld ist, die <lb n="pvi_1357.028"/> „nicht sich selbst und ihren heil'gen Werth erkennt“. Sie ist nur möglich <lb n="pvi_1357.029"/> in unmittelbarer Verbindung mit der Musik, das Volkslied wird singend <lb n="pvi_1357.030"/> improvisirt, pflanzt sich nur mit seiner Melodie fort, denn hier wird nicht <lb n="pvi_1357.031"/> geschrieben und gedruckt. Der Dichter tritt nicht hervor, wird nicht genannt, <lb n="pvi_1357.032"/> Niemand fragt nach ihm, er hat im Namen Aller gesungen, das Subject <lb n="pvi_1357.033"/> isolirt sich ja auf der ganzen Bildungsstufe nicht, es gibt nur Ein Gesammtsubject, <lb n="pvi_1357.034"/> dieß ist das Volk, und das Volk ist eigentlich der Dichter, es gibt <lb n="pvi_1357.035"/> keinerlei literarisches Jnteresse, Jnteressantsein und Jnteressantseinwollen, kein <lb n="pvi_1357.036"/> kritisches Urtheil; was schön ist, erfreut, weil man es an der Rührung <lb n="pvi_1357.037"/> fühlt. Dieß ist das Waldesdunkel, wodurch in §. 519 die wahre Geburtsstätte <lb n="pvi_1357.038"/> des Volkslieds bezeichnet ist. Lieder aus der Sphäre der bewußten <lb n="pvi_1357.039"/> Bildung, welche populär werden und, weil sie dem Volkstone gut nachgefühlt <lb n="pvi_1357.040"/> sind, selbst in Volksmund übergehen, sind darum nimmermehr Volkslieder <lb n="pvi_1357.041"/> zu nennen. Daher nun die in dem genannten §. aufgestellten Züge </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1357/0219]
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war, das Lyrische, zur stillen Pflege, die, in ihrem Thun wesentlich um pvi_1357.002
keine Belauschung wissend, endlich doch belauscht wird und ihr schönes, pvi_1357.003
heimliches Werk in den Garten der Oeffentlichkeit hinübergetragen sieht. pvi_1357.004
Was heißt Volk, wenn man vom Volksliede spricht? Es ist ursprünglich, pvi_1357.005
ehe diejenige Bildung eintrat, welche die Stände nicht nur nach Besitz, pvi_1357.006
Macht, Recht, Geschäft, Würde, sondern nach der ganzen Form des Bewußtseins pvi_1357.007
trennt, die gesammte Nation. Da ist kein Unterschied des poetischen pvi_1357.008
Urtheils; dasselbe Lied entzückt Bauern, Handwerker, Adel, Geistliche, Fürsten. pvi_1357.009
Nachdem nun diese Trennung eingetreten ist, heißt der Theil der Nation, pvi_1357.010
der von den geistigen Mitteln ausgeschlossen ist, durch welche die Bildung pvi_1357.011
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erarbeitet wird, das Volk. Allein dieser Theil ist das, was einst Alle waren, pvi_1357.013
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hinausgewachsen sind, aus dem sie aber kommen. Von denjenigen, die in pvi_1357.015
unbestimmter Mitte stehen, nicht mehr naiv und doch nicht gründlich gebildet pvi_1357.016
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Bildung auch hat, aber eine solche, welche der die Kluft bedingenden Bildung pvi_1357.020
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schärferen Geiste der Erfahrung angeweht wird, ohne doch ganz zum Tageslichte pvi_1357.026
der Reflexion aufgerüttelt zu werden. Jn diesem Boden erwächst nun pvi_1357.027
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geschrieben und gedruckt. Der Dichter tritt nicht hervor, wird nicht genannt, pvi_1357.032
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sind, selbst in Volksmund übergehen, sind darum nimmermehr Volkslieder pvi_1357.041
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