Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1362.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0224" n="1362"/><lb n="pvi_1362.001"/> Tanzlied, das ursprünglich die bestimmte rhythmische Form von drei verschlungenen <lb n="pvi_1362.002"/> Strophen mit Refrain hatte, allein wie es in England stehend <lb n="pvi_1362.003"/> wurde als Name für das epische Lied, wie es dort und in Schottland sich <lb n="pvi_1362.004"/> ausbildete, so verband sich damit der Sinn eines bestimmten Charakters der <lb n="pvi_1362.005"/> Behandlung, in dem wir ein reines Bild jener zweiten Stylrichtung haben, <lb n="pvi_1362.006"/> und die rhythmische Form bewegte sich frei in heimischen Maaßen. Es ist <lb n="pvi_1362.007"/> die nordische Stimmung mit ihrem bewegteren, ahnungsvolleren, mehr <lb n="pvi_1362.008"/> andeutenden, als zeichnenden Ton, ihrem stoßweisen, Mittelglieder überspringenden <lb n="pvi_1362.009"/> Gange, es ist, was Göthe die mysteriöse Behandlung nennt, <lb n="pvi_1362.010"/> welche der Ballade zukomme. Der Name Romanze hat sich in Spanien <lb n="pvi_1362.011"/> für das epische Lied festgesetzt und das äußere, rhythmische Merkmal ist der <lb n="pvi_1362.012"/> Trochäus, gewöhnlich in Tetrametern, welche fortlaufend assoniren. Es ist <lb n="pvi_1362.013"/> aber nur natürlich, daß wir mit dem Namen auch den Begriff einer bestimmten <lb n="pvi_1362.014"/> Behandlung verbinden und zwar derjenigen, wie sie dem romanischen <lb n="pvi_1362.015"/> Völkergeist entspricht und eben in den spanischen Romanzen vorzüglich <lb n="pvi_1362.016"/> sich zeigt: nämlich jener helleren, durchsichtigeren, ruhigeren, mehr episch <lb n="pvi_1362.017"/> entwickelnden, mehr plastischen. Besteht nun dieser Gegensatz zunächst als <lb n="pvi_1362.018"/> ein nationaler, so hindert nichts, denselben, wie er innerhalb der Literatur <lb n="pvi_1362.019"/> einer Nation, namentlich der deutschen, jederzeit wieder auftreten und <lb n="pvi_1362.020"/> bestehen wird, mit jenen Namen zu bezeichnen, nur geschehe es mit <lb n="pvi_1362.021"/> dem Vorbehalte, daß man damit nicht ängstlich ausmessen und abstract <lb n="pvi_1362.022"/> Alles eintheilen will; sonst thäte man besser, mit W. Wackernagel, der <lb n="pvi_1362.023"/> (Schweiz. Archiv f. histor. Wiss. B. 2, S. 250) die Unterscheidung rein <lb n="pvi_1362.024"/> auf das Metrische zu beschränken. Der Ballade kommt vermöge des oben <lb n="pvi_1362.025"/> bezeichneten Charakters ihrer Bewegungsweise genauer das Merkmal des <lb n="pvi_1362.026"/> dramatischen Ganges zu und dieß widerspricht keineswegs dem rein Lyrischen, <lb n="pvi_1362.027"/> Beschleierten, Beflorten ihres Tons, das sich wie Moll zu dem Dur der <lb n="pvi_1362.028"/> Romanze verhält. Das Drama beschleunigt, wie wir sehen werden, seinen <lb n="pvi_1362.029"/> Gang, wirft die Hemmungen rascher nieder, als das Epos, motivirt tiefer <lb n="pvi_1362.030"/> aus dem Jnnern, weniger umständlich und nur bedingt aus dem Aeußern; <lb n="pvi_1362.031"/> dieß thut es, weil es die Welt als eine von innen heraus bestimmte darstellt; <lb n="pvi_1362.032"/> die lyrische Poesie aber ist, wie sie nach der einen Seite vom Epos <lb n="pvi_1362.033"/> herkommt, nach der andern eben hierin der Durchgang, aus dem das <lb n="pvi_1362.034"/> Drama hervorgeht; hier wird die Welt in's Jnnere gezogen, zur Bewegung <lb n="pvi_1362.035"/> von innen heraus bearbeitet, zubereitet, durch Lichter aus dem Jnnern beleuchtet. <lb n="pvi_1362.036"/> Wirft sich nun das Lyrische episch auf Erzählungsstoff, so wird <lb n="pvi_1362.037"/> es also gerade je intensiver lyrisch, desto mehr diesen Stoff in einer Weise <lb n="pvi_1362.038"/> innerlich durchwärmen, daß seine wallende Bewegung auf die Nähe des <lb n="pvi_1362.039"/> Dramatischen hinweist. Es ist keineswegs ein blos äußerlicher Zug, daß <lb n="pvi_1362.040"/> dieser Styl ungleich mehr, als der Romanzenstyl, die dialogische Form liebt. <lb n="pvi_1362.041"/> Hier werden die Sprechenden nicht weiter genannt, der Dichter hat sich, wie </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1362/0224]
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Tanzlied, das ursprünglich die bestimmte rhythmische Form von drei verschlungenen pvi_1362.002
Strophen mit Refrain hatte, allein wie es in England stehend pvi_1362.003
wurde als Name für das epische Lied, wie es dort und in Schottland sich pvi_1362.004
ausbildete, so verband sich damit der Sinn eines bestimmten Charakters der pvi_1362.005
Behandlung, in dem wir ein reines Bild jener zweiten Stylrichtung haben, pvi_1362.006
und die rhythmische Form bewegte sich frei in heimischen Maaßen. Es ist pvi_1362.007
die nordische Stimmung mit ihrem bewegteren, ahnungsvolleren, mehr pvi_1362.008
andeutenden, als zeichnenden Ton, ihrem stoßweisen, Mittelglieder überspringenden pvi_1362.009
Gange, es ist, was Göthe die mysteriöse Behandlung nennt, pvi_1362.010
welche der Ballade zukomme. Der Name Romanze hat sich in Spanien pvi_1362.011
für das epische Lied festgesetzt und das äußere, rhythmische Merkmal ist der pvi_1362.012
Trochäus, gewöhnlich in Tetrametern, welche fortlaufend assoniren. Es ist pvi_1362.013
aber nur natürlich, daß wir mit dem Namen auch den Begriff einer bestimmten pvi_1362.014
Behandlung verbinden und zwar derjenigen, wie sie dem romanischen pvi_1362.015
Völkergeist entspricht und eben in den spanischen Romanzen vorzüglich pvi_1362.016
sich zeigt: nämlich jener helleren, durchsichtigeren, ruhigeren, mehr episch pvi_1362.017
entwickelnden, mehr plastischen. Besteht nun dieser Gegensatz zunächst als pvi_1362.018
ein nationaler, so hindert nichts, denselben, wie er innerhalb der Literatur pvi_1362.019
einer Nation, namentlich der deutschen, jederzeit wieder auftreten und pvi_1362.020
bestehen wird, mit jenen Namen zu bezeichnen, nur geschehe es mit pvi_1362.021
dem Vorbehalte, daß man damit nicht ängstlich ausmessen und abstract pvi_1362.022
Alles eintheilen will; sonst thäte man besser, mit W. Wackernagel, der pvi_1362.023
(Schweiz. Archiv f. histor. Wiss. B. 2, S. 250) die Unterscheidung rein pvi_1362.024
auf das Metrische zu beschränken. Der Ballade kommt vermöge des oben pvi_1362.025
bezeichneten Charakters ihrer Bewegungsweise genauer das Merkmal des pvi_1362.026
dramatischen Ganges zu und dieß widerspricht keineswegs dem rein Lyrischen, pvi_1362.027
Beschleierten, Beflorten ihres Tons, das sich wie Moll zu dem Dur der pvi_1362.028
Romanze verhält. Das Drama beschleunigt, wie wir sehen werden, seinen pvi_1362.029
Gang, wirft die Hemmungen rascher nieder, als das Epos, motivirt tiefer pvi_1362.030
aus dem Jnnern, weniger umständlich und nur bedingt aus dem Aeußern; pvi_1362.031
dieß thut es, weil es die Welt als eine von innen heraus bestimmte darstellt; pvi_1362.032
die lyrische Poesie aber ist, wie sie nach der einen Seite vom Epos pvi_1362.033
herkommt, nach der andern eben hierin der Durchgang, aus dem das pvi_1362.034
Drama hervorgeht; hier wird die Welt in's Jnnere gezogen, zur Bewegung pvi_1362.035
von innen heraus bearbeitet, zubereitet, durch Lichter aus dem Jnnern beleuchtet. pvi_1362.036
Wirft sich nun das Lyrische episch auf Erzählungsstoff, so wird pvi_1362.037
es also gerade je intensiver lyrisch, desto mehr diesen Stoff in einer Weise pvi_1362.038
innerlich durchwärmen, daß seine wallende Bewegung auf die Nähe des pvi_1362.039
Dramatischen hinweist. Es ist keineswegs ein blos äußerlicher Zug, daß pvi_1362.040
dieser Styl ungleich mehr, als der Romanzenstyl, die dialogische Form liebt. pvi_1362.041
Hier werden die Sprechenden nicht weiter genannt, der Dichter hat sich, wie
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