Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1401.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0263" n="1401"/><lb n="pvi_1401.001"/> So geht im Makbeth die Stufenfolge vom ersten Morde zum zweiten, <lb n="pvi_1401.002"/> dann zu der Hexenscene, welche den Helden durch den innern Widerspruch <lb n="pvi_1401.003"/> der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth stürzt, dann zu der Ermordung <lb n="pvi_1401.004"/> der Familie Makduff's weiter, und in gleichem Schritte mit dieser Reihe <lb n="pvi_1401.005"/> von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerstörung und der Macht, <lb n="pvi_1401.006"/> welche die äußere Zerstörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der <lb n="pvi_1401.007"/> wilden Grausamkeit gegen Makduff's Familie, ist der Held auf dem Gipfel <lb n="pvi_1401.008"/> angekommen, ja er hat den Fuß schon darüber hinausgesetzt, das Aufsteigen <lb n="pvi_1401.009"/> ist bereits entschieden ein Herabsteigen. Ueberhaupt wird sich der Moment <lb n="pvi_1401.010"/> des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern, <lb n="pvi_1401.011"/> ironischen Widerspruchs der Bewegung immer schon auf dieser Strecke der <lb n="pvi_1401.012"/> Verwicklung einstellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nachweisen <lb n="pvi_1401.013"/> lassen, wohl aber wird sich ein sichtbarer Gipfel des Glücks aufzeigen <lb n="pvi_1401.014"/> lassen, wo der Held, der die Vorboten seines Falls nicht sieht oder <lb n="pvi_1401.015"/> sich darüber wegsetzt, seinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von diesem <lb n="pvi_1401.016"/> Höhepunct an geht es dann augenscheinlich bergab. Die Katastrophe selbst <lb n="pvi_1401.017"/> verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es <lb n="pvi_1401.018"/> sich nicht blos um das Schicksal der Hauptperson, sondern auch der Nebenpersonen <lb n="pvi_1401.019"/> und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund <lb n="pvi_1401.020"/> sich erstrecken. Uebersieht man diese Theile, so ergibt sich wie von selbst die <lb n="pvi_1401.021"/> Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die sich mit Rücksicht auf die <lb n="pvi_1401.022"/> Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pausen als Acte darstellen: <lb n="pvi_1401.023"/> Einschnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgesänge gebildet <lb n="pvi_1401.024"/> wurden und erst, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigentlichen <lb n="pvi_1401.025"/> Stillständen der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die <lb n="pvi_1401.026"/> Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anspruch nehmen, als Anfang <lb n="pvi_1401.027"/> und Ende, und mit ihren verschiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch <lb n="pvi_1401.028"/> können auch Fälle vorkommen, wo die Katastrophe zwei Acte verlangt, <lb n="pvi_1401.029"/> indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entscheidung, z. B. für eine ganze <lb n="pvi_1401.030"/> Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt sein wollen. Die <lb n="pvi_1401.031"/> Alten hatten drei Hauptabschnitte; Prolog: der Theil, der die Exposition <lb n="pvi_1401.032"/> enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwischen <lb n="pvi_1401.033"/> dem Einzuge des Chors und den Standliedern desselben; Exodos: nach dem <lb n="pvi_1401.034"/> letzten Standliede. Der mittlere dieser Theile, die Verwicklung enthaltend, <lb n="pvi_1401.035"/> zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern <lb n="pvi_1401.036"/> getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine bestimmte Zahl von <lb n="pvi_1401.037"/> Acten, wie sie zuerst Horaz aufstellt, kann zwar keine bindende Regel sein, <lb n="pvi_1401.038"/> aber es ist gut und recht, daß sich ein Brauch festgesetzt hat. Die Acte <lb n="pvi_1401.039"/> theilen sich wieder in Scenen, diese in ihre einzelnen Gruppen und Situationen <lb n="pvi_1401.040"/> und das Drama erscheint so gegenüber dem stetigen Flusse des Epos, <lb n="pvi_1401.041"/> der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Gesänge zerfällt, als </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1401/0263]
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So geht im Makbeth die Stufenfolge vom ersten Morde zum zweiten, pvi_1401.002
dann zu der Hexenscene, welche den Helden durch den innern Widerspruch pvi_1401.003
der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth stürzt, dann zu der Ermordung pvi_1401.004
der Familie Makduff's weiter, und in gleichem Schritte mit dieser Reihe pvi_1401.005
von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerstörung und der Macht, pvi_1401.006
welche die äußere Zerstörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der pvi_1401.007
wilden Grausamkeit gegen Makduff's Familie, ist der Held auf dem Gipfel pvi_1401.008
angekommen, ja er hat den Fuß schon darüber hinausgesetzt, das Aufsteigen pvi_1401.009
ist bereits entschieden ein Herabsteigen. Ueberhaupt wird sich der Moment pvi_1401.010
des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern, pvi_1401.011
ironischen Widerspruchs der Bewegung immer schon auf dieser Strecke der pvi_1401.012
Verwicklung einstellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nachweisen pvi_1401.013
lassen, wohl aber wird sich ein sichtbarer Gipfel des Glücks aufzeigen pvi_1401.014
lassen, wo der Held, der die Vorboten seines Falls nicht sieht oder pvi_1401.015
sich darüber wegsetzt, seinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von diesem pvi_1401.016
Höhepunct an geht es dann augenscheinlich bergab. Die Katastrophe selbst pvi_1401.017
verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es pvi_1401.018
sich nicht blos um das Schicksal der Hauptperson, sondern auch der Nebenpersonen pvi_1401.019
und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund pvi_1401.020
sich erstrecken. Uebersieht man diese Theile, so ergibt sich wie von selbst die pvi_1401.021
Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die sich mit Rücksicht auf die pvi_1401.022
Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pausen als Acte darstellen: pvi_1401.023
Einschnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgesänge gebildet pvi_1401.024
wurden und erst, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigentlichen pvi_1401.025
Stillständen der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die pvi_1401.026
Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anspruch nehmen, als Anfang pvi_1401.027
und Ende, und mit ihren verschiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch pvi_1401.028
können auch Fälle vorkommen, wo die Katastrophe zwei Acte verlangt, pvi_1401.029
indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entscheidung, z. B. für eine ganze pvi_1401.030
Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt sein wollen. Die pvi_1401.031
Alten hatten drei Hauptabschnitte; Prolog: der Theil, der die Exposition pvi_1401.032
enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwischen pvi_1401.033
dem Einzuge des Chors und den Standliedern desselben; Exodos: nach dem pvi_1401.034
letzten Standliede. Der mittlere dieser Theile, die Verwicklung enthaltend, pvi_1401.035
zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern pvi_1401.036
getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine bestimmte Zahl von pvi_1401.037
Acten, wie sie zuerst Horaz aufstellt, kann zwar keine bindende Regel sein, pvi_1401.038
aber es ist gut und recht, daß sich ein Brauch festgesetzt hat. Die Acte pvi_1401.039
theilen sich wieder in Scenen, diese in ihre einzelnen Gruppen und Situationen pvi_1401.040
und das Drama erscheint so gegenüber dem stetigen Flusse des Epos, pvi_1401.041
der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Gesänge zerfällt, als
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