Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1421.001 §. 910. pvi_1421.002Für die Tragödie bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied pvi_1421.003 Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend pvi_1421.009 pvi_1421.001 §. 910. pvi_1421.002Für die Tragödie bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied pvi_1421.003 Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend pvi_1421.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0283" n="1421"/> <lb n="pvi_1421.001"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 910.</hi> </p> <lb n="pvi_1421.002"/> <p> Für die <hi rendition="#g">Tragödie</hi> bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied <lb n="pvi_1421.003"/> des <hi rendition="#g">Stoffes.</hi> Derselbe ist entweder <hi rendition="#g">sagenhaft heroisch</hi> oder <hi rendition="#g">historisch <lb n="pvi_1421.004"/> politisch,</hi> wo denn prinzipielle Umwälzungen des Bestehenden durch gewaltige <lb n="pvi_1421.005"/> Charaktere den der Dichtungsart entsprechendsten Jnhalt darbieten, oder er <lb n="pvi_1421.006"/> gehört dem <hi rendition="#g">bürgerlichen</hi> und <hi rendition="#g">Privat-Leben</hi> an. Historisch politischer <lb n="pvi_1421.007"/> Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der ersteren.</p> <lb n="pvi_1421.008"/> <p> <hi rendition="#et"> Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend <lb n="pvi_1421.009"/> ist; die Eintheilungsgründe sind nacheinander aufzustellen und dann ihre <lb n="pvi_1421.010"/> Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. – Wir haben schon in §. 907 <lb n="pvi_1421.011"/> gesagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama <lb n="pvi_1421.012"/> die sagenhaft heroischen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen <lb n="pvi_1421.013"/> Vortheile, den sie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf also keines <lb n="pvi_1421.014"/> weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir diese Sphäre als Glied <lb n="pvi_1421.015"/> einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimische Boden <lb n="pvi_1421.016"/> des modernen Drama's sind aber natürlich die hellen Epochen der Geschichte; <lb n="pvi_1421.017"/> die Arbeit ist unendlich schwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwältigung <lb n="pvi_1421.018"/> durch den massenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenstand, <lb n="pvi_1421.019"/> daher die Verirrung in die Breite des Epischen liegt nahe genug, allein <lb n="pvi_1421.020"/> alle moderne Kunst hat die Aufgabe, zur ursprünglichen Stoffwelt sich <lb n="pvi_1421.021"/> zurückzuwenden und den schweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der <lb n="pvi_1421.022"/> allgemeinen Phantasie auf sich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet <lb n="pvi_1421.023"/> sind Stoffe aus der <hi rendition="#g">alten Geschichte</hi> günstiger. Die Welt ist eine <lb n="pvi_1421.024"/> einfachere, klarere, schon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealisirte. <lb n="pvi_1421.025"/> Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich ist <lb n="pvi_1421.026"/> Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtsein, tiefe und <lb n="pvi_1421.027"/> raffinirte Conflicte des Herzens und Weltschmerz in alttestamentliche Stoffe <lb n="pvi_1421.028"/> zwängen ist eine der Verkehrtheiten unserer Zeit. Einen größeren Reichthum <lb n="pvi_1421.029"/> ächt dramatischer Stoffe bringt natürlich die classische, die griechische <lb n="pvi_1421.030"/> und römische Geschichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben <lb n="pvi_1421.031"/> solchen Zuständen, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epischer <lb n="pvi_1421.032"/> Stoff sind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radicalen <lb n="pvi_1421.033"/> Charaktere, welche mit hellem Bewußtsein eine bestehende Ordnung <lb n="pvi_1421.034"/> stürzen und tragisch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im <lb n="pvi_1421.035"/> Coriolan, im Cäsar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nachtheil, <lb n="pvi_1421.036"/> daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typisch <lb n="pvi_1421.037"/> einfach sind. Jm <hi rendition="#g">Mittelalter</hi> ist es umgekehrt; diese sind colorirt, aber die <lb n="pvi_1421.038"/> sittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß ist besonders der <lb n="pvi_1421.039"/> Fall in dem wilden und blutigen Auflösungskampfe des Feudalstaats, wie er </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1421/0283]
pvi_1421.001
§. 910.
pvi_1421.002
Für die Tragödie bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied pvi_1421.003
des Stoffes. Derselbe ist entweder sagenhaft heroisch oder historisch pvi_1421.004
politisch, wo denn prinzipielle Umwälzungen des Bestehenden durch gewaltige pvi_1421.005
Charaktere den der Dichtungsart entsprechendsten Jnhalt darbieten, oder er pvi_1421.006
gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Historisch politischer pvi_1421.007
Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der ersteren.
pvi_1421.008
Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend pvi_1421.009
ist; die Eintheilungsgründe sind nacheinander aufzustellen und dann ihre pvi_1421.010
Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. – Wir haben schon in §. 907 pvi_1421.011
gesagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama pvi_1421.012
die sagenhaft heroischen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen pvi_1421.013
Vortheile, den sie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf also keines pvi_1421.014
weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir diese Sphäre als Glied pvi_1421.015
einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimische Boden pvi_1421.016
des modernen Drama's sind aber natürlich die hellen Epochen der Geschichte; pvi_1421.017
die Arbeit ist unendlich schwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwältigung pvi_1421.018
durch den massenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenstand, pvi_1421.019
daher die Verirrung in die Breite des Epischen liegt nahe genug, allein pvi_1421.020
alle moderne Kunst hat die Aufgabe, zur ursprünglichen Stoffwelt sich pvi_1421.021
zurückzuwenden und den schweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der pvi_1421.022
allgemeinen Phantasie auf sich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet pvi_1421.023
sind Stoffe aus der alten Geschichte günstiger. Die Welt ist eine pvi_1421.024
einfachere, klarere, schon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealisirte. pvi_1421.025
Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich ist pvi_1421.026
Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtsein, tiefe und pvi_1421.027
raffinirte Conflicte des Herzens und Weltschmerz in alttestamentliche Stoffe pvi_1421.028
zwängen ist eine der Verkehrtheiten unserer Zeit. Einen größeren Reichthum pvi_1421.029
ächt dramatischer Stoffe bringt natürlich die classische, die griechische pvi_1421.030
und römische Geschichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben pvi_1421.031
solchen Zuständen, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epischer pvi_1421.032
Stoff sind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radicalen pvi_1421.033
Charaktere, welche mit hellem Bewußtsein eine bestehende Ordnung pvi_1421.034
stürzen und tragisch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im pvi_1421.035
Coriolan, im Cäsar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nachtheil, pvi_1421.036
daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typisch pvi_1421.037
einfach sind. Jm Mittelalter ist es umgekehrt; diese sind colorirt, aber die pvi_1421.038
sittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß ist besonders der pvi_1421.039
Fall in dem wilden und blutigen Auflösungskampfe des Feudalstaats, wie er
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |