Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1451.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0313" n="1451"/><lb n="pvi_1451.001"/> des Denkens, des Einarbeitens, und derselbe hat sich nicht nur auf die einzelne <lb n="pvi_1451.002"/> Rolle, sondern auf das Ganze zu erstrecken, denn sie ist Glied des <lb n="pvi_1451.003"/> Ganzen, und auf dieses muß also auch die geniale Jntuition sich ausbreiten: <lb n="pvi_1451.004"/> der Schauspieler muß die Jdee seiner Rolle ebensosehr aus der <lb n="pvi_1451.005"/> Jdee des ganzen Drama, als aus dieser selbst sich erzeugen. Hier liegt <lb n="pvi_1451.006"/> denn zugleich ein wesentliches Moment der Kunstmoral für diesen Stand: <lb n="pvi_1451.007"/> die Pflicht der Einreihung in das Ganze, der Unterordnung unter dasselbe, <lb n="pvi_1451.008"/> die Bezwingung der Eitelkeit im Dienste des <hi rendition="#aq">Ensemble</hi>. Zwischen dem <lb n="pvi_1451.009"/> geistigen Eindringen in die Rolle und der Ausführung liegt nun die Nothwendigkeit <lb n="pvi_1451.010"/> eines umfassenden Studiums des hiehergehörigen großen Gebietes <lb n="pvi_1451.011"/> des Naturschönen: des physiognomischen, pathognomischen Ausdruckes <lb n="pvi_1451.012"/> (vergl. §. 338 ff.), des Menschenlebens überhaupt im weitesten Sinne. <lb n="pvi_1451.013"/> Der Schauspieler, welcher der Reflexion mehr, als dem Talente, verdankt, <lb n="pvi_1451.014"/> setzt Einzelzüge aus den Erwerbungen dieses Studiums musivisch zusammen, <lb n="pvi_1451.015"/> dem genialen schießen dieselben von selbst organisch an das mit Einem inneren <lb n="pvi_1451.016"/> Wurfe der Phantasie dem Dichter nachgeschaffene Charakterbild an, <lb n="pvi_1451.017"/> und die Mühe des Denkens und Uebens ist getragen von dem magischen <lb n="pvi_1451.018"/> Zuge dieses Schauens. – Jn der wirklichen Ausführung ist das nächste <lb n="pvi_1451.019"/> Moment die Herstellung der sog. <hi rendition="#g">Maske;</hi> es ist von Wichtigkeit, weil es <lb n="pvi_1451.020"/> hier gilt, der Schauspielkunst im Mittelpunct ihrer Schwäche, der Jncongruenz <lb n="pvi_1451.021"/> der lebendigen Persönlichkeit zu dem geistigen, concret gedachten Bilde des <lb n="pvi_1451.022"/> Dichters, mit allen Mitteln der Kleidung, Behandlung der Haare u. s. w. <lb n="pvi_1451.023"/> nachzuhelfen. Was aber von Unangemessenheit zurückbleiben mag, wird <lb n="pvi_1451.024"/> durch ächte Kunst im wirklichen Spiele momentan verwischt; denn der fortgerissene <lb n="pvi_1451.025"/> Zuschauer erzeugt sich das Bild der Erscheinung aus dem geistigeren <lb n="pvi_1451.026"/> Theile der Darstellungsmittel und die Phantasie hat die wunderbare <lb n="pvi_1451.027"/> Fähigkeit, darüber wirklich die Gestalt anders, namentlich heroisch größer <lb n="pvi_1451.028"/> zu sehen, als sie ist. Diese geistigeren Mittel bestehen denn in der Activität <lb n="pvi_1451.029"/> der Gestalt für Auge und Ohr, <hi rendition="#g">Action</hi> und <hi rendition="#g">Declamation:</hi> jene <lb n="pvi_1451.030"/> umfaßt Gesichts-Ausdruck, Gesticulation der Hände, Bewegung der Füße <lb n="pvi_1451.031"/> und des ganzen Körpers, wobei das Verweilen in einer Geste, das Verhalten <lb n="pvi_1451.032"/> in der Ruhe so wesentlich ist, als die Reihe der wirklich bewegten <lb n="pvi_1451.033"/> Momente, das stumme Spiel so wichtig, als das mit der Rede verbundene; <lb n="pvi_1451.034"/> diese erhebt die unendliche Tonwelt der Sprache nach Höhe und Tiefe, <lb n="pvi_1451.035"/> Stärke und Schwäche, Beschleunigung und Langsamkeit zum künstlerischen <lb n="pvi_1451.036"/> Ausdruck des Charakters und jeder seiner innern Bewegungen. Die letztere <lb n="pvi_1451.037"/> Unterscheidung ist namentlich für den Schauspieler wichtig: der Charakter <lb n="pvi_1451.038"/> bleibt sich im Wechsel der Stimmungen und Affecte gleich, sein stehendes <lb n="pvi_1451.039"/> Gepräge soll aber ebensowenig den letztern ihre momentane Gewalt und <lb n="pvi_1451.040"/> Wärme entziehen, als von denselben überwachsen und aus den Fugen seiner <lb n="pvi_1451.041"/> Grundzüge getrieben werden. Die Deutschen sind bessere Darsteller des </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1451/0313]
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des Denkens, des Einarbeitens, und derselbe hat sich nicht nur auf die einzelne pvi_1451.002
Rolle, sondern auf das Ganze zu erstrecken, denn sie ist Glied des pvi_1451.003
Ganzen, und auf dieses muß also auch die geniale Jntuition sich ausbreiten: pvi_1451.004
der Schauspieler muß die Jdee seiner Rolle ebensosehr aus der pvi_1451.005
Jdee des ganzen Drama, als aus dieser selbst sich erzeugen. Hier liegt pvi_1451.006
denn zugleich ein wesentliches Moment der Kunstmoral für diesen Stand: pvi_1451.007
die Pflicht der Einreihung in das Ganze, der Unterordnung unter dasselbe, pvi_1451.008
die Bezwingung der Eitelkeit im Dienste des Ensemble. Zwischen dem pvi_1451.009
geistigen Eindringen in die Rolle und der Ausführung liegt nun die Nothwendigkeit pvi_1451.010
eines umfassenden Studiums des hiehergehörigen großen Gebietes pvi_1451.011
des Naturschönen: des physiognomischen, pathognomischen Ausdruckes pvi_1451.012
(vergl. §. 338 ff.), des Menschenlebens überhaupt im weitesten Sinne. pvi_1451.013
Der Schauspieler, welcher der Reflexion mehr, als dem Talente, verdankt, pvi_1451.014
setzt Einzelzüge aus den Erwerbungen dieses Studiums musivisch zusammen, pvi_1451.015
dem genialen schießen dieselben von selbst organisch an das mit Einem inneren pvi_1451.016
Wurfe der Phantasie dem Dichter nachgeschaffene Charakterbild an, pvi_1451.017
und die Mühe des Denkens und Uebens ist getragen von dem magischen pvi_1451.018
Zuge dieses Schauens. – Jn der wirklichen Ausführung ist das nächste pvi_1451.019
Moment die Herstellung der sog. Maske; es ist von Wichtigkeit, weil es pvi_1451.020
hier gilt, der Schauspielkunst im Mittelpunct ihrer Schwäche, der Jncongruenz pvi_1451.021
der lebendigen Persönlichkeit zu dem geistigen, concret gedachten Bilde des pvi_1451.022
Dichters, mit allen Mitteln der Kleidung, Behandlung der Haare u. s. w. pvi_1451.023
nachzuhelfen. Was aber von Unangemessenheit zurückbleiben mag, wird pvi_1451.024
durch ächte Kunst im wirklichen Spiele momentan verwischt; denn der fortgerissene pvi_1451.025
Zuschauer erzeugt sich das Bild der Erscheinung aus dem geistigeren pvi_1451.026
Theile der Darstellungsmittel und die Phantasie hat die wunderbare pvi_1451.027
Fähigkeit, darüber wirklich die Gestalt anders, namentlich heroisch größer pvi_1451.028
zu sehen, als sie ist. Diese geistigeren Mittel bestehen denn in der Activität pvi_1451.029
der Gestalt für Auge und Ohr, Action und Declamation: jene pvi_1451.030
umfaßt Gesichts-Ausdruck, Gesticulation der Hände, Bewegung der Füße pvi_1451.031
und des ganzen Körpers, wobei das Verweilen in einer Geste, das Verhalten pvi_1451.032
in der Ruhe so wesentlich ist, als die Reihe der wirklich bewegten pvi_1451.033
Momente, das stumme Spiel so wichtig, als das mit der Rede verbundene; pvi_1451.034
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Stärke und Schwäche, Beschleunigung und Langsamkeit zum künstlerischen pvi_1451.036
Ausdruck des Charakters und jeder seiner innern Bewegungen. Die letztere pvi_1451.037
Unterscheidung ist namentlich für den Schauspieler wichtig: der Charakter pvi_1451.038
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Gepräge soll aber ebensowenig den letztern ihre momentane Gewalt und pvi_1451.040
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