Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1461.001 Die directe oder positive Satyre hält das Jdeal ausgesprochener Maaßen pvi_1461.009
pvi_1461.001 Die directe oder positive Satyre hält das Jdeal ausgesprochener Maaßen pvi_1461.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0323" n="1461"/><lb n="pvi_1461.001"/> mehr sich aber die Satyre zum eigentlichen Drama entwickelt, desto mehr <lb n="pvi_1461.002"/> ist ihr der Aufschwung zum ächt Komischen gesichert, ja mehr noch, als im <lb n="pvi_1461.003"/> Epischen, weil die Selbstverwandlung des Dichters in seine Personen ihn <lb n="pvi_1461.004"/> entschiedener aus dem Standpuncte der Entgegensetzung gegen die Welt, der <lb n="pvi_1461.005"/> seine Grundlage bildet, in die Trunkenheit des wirklichen Humors hineinreißt. <lb n="pvi_1461.006"/> Auf Aristophanes haben wir in dieser Beziehung schon öfters hingewiesen. <lb n="pvi_1461.007"/> –</hi> </p> <lb n="pvi_1461.008"/> <p> <hi rendition="#et"> Die directe oder positive Satyre hält das Jdeal ausgesprochener Maaßen <lb n="pvi_1461.009"/> an den Gegenstand, zeigt dessen Schlechtigkeit in offenem Angriff auf und <lb n="pvi_1461.010"/> gehört also entschiedener dem Boden der prosaischen Trennung zwischen der <lb n="pvi_1461.011"/> Jdee und der Welt an. Sie verfährt daher auch meist monologisch, tritt in <lb n="pvi_1461.012"/> Briefen, Abhandlungsform u. dergl. in der eigenen Person auf. Es ist <lb n="pvi_1461.013"/> damit zugleich gesagt, daß, wie in der Stimmung die freie Heiterkeit, welche <lb n="pvi_1461.014"/> ihre Narren liebt und geneigt ist, das eigene Jch unter den komischen <lb n="pvi_1461.015"/> Widerspruch zu subsumiren, so im poetischen Acte die Objectivirung nicht <lb n="pvi_1461.016"/> eintritt; daher in Vergleichung mit den Zweigen der Poesie nur eine Verwandtschaft <lb n="pvi_1461.017"/> mit dem Lyrischen übrig bleibt. Die directe Satyre wäre daher <lb n="pvi_1461.018"/> überhaupt nicht ästhetisch, sondern ethisch, wenn sie nicht im Einzelnen <lb n="pvi_1461.019"/> komischer Mittel, natürlich im Wesentlichen des Witzes, sich bediente, und <lb n="pvi_1461.020"/> da die objectivste Form des Witzes die Jronie ist (vergl. §. 201–204), so <lb n="pvi_1461.021"/> folgt, daß ihr Verfahren, wenn sie zu dieser greift, am nächsten an die <lb n="pvi_1461.022"/> höhere und freiere Natur der indirecten Satyre grenzt. Das Lob der Narrheit <lb n="pvi_1461.023"/> von Erasmus und die ironischen Abhandlungen von Liscow mögen <lb n="pvi_1461.024"/> als Beispiele genannt werden. Allein hier schwächt sich auch die praktische <lb n="pvi_1461.025"/> Gewalt einer Aeußerung des Geistes ab, die als beißendes Salz der trägen <lb n="pvi_1461.026"/> Masse des geschichtlichen Lebens unentbehrlich ist. Verdorbene Zustände <lb n="pvi_1461.027"/> wollen nicht mit der versteckt lachenden Jronie, sondern mit der äzenden <lb n="pvi_1461.028"/> Schärfe einer gründlichen Erbitterung bearbeitet, durchbohrt sein, der ästhetische <lb n="pvi_1461.029"/> Standpunct weicht dem ethischen, dem das Verhüllte zu matt, zu schwächlich <lb n="pvi_1461.030"/> ist. Fortgesetzte Jronie ist daher etwas Veraltetes, ist Rokoko, wir <lb n="pvi_1461.031"/> ertragen das schleppende Hinterhalten nicht mehr. Es versteht sich, daß, je <lb n="pvi_1461.032"/> mehr bei diesem positiv satyrischen Verhalten der ästhetische Standpunct hinter <lb n="pvi_1461.033"/> den ethischen zurücktritt, desto ausdrücklicher ein reiner Haß gefordert werden <lb n="pvi_1461.034"/> muß, der aus der Jdee fließt: „die Abneigung könnte auch eine blos sinnliche <lb n="pvi_1461.035"/> Quelle haben und lediglich in Bedürfniß gegründet sein, mit welchem <lb n="pvi_1461.036"/> die Wirklichkeit streitet, und häufig genug glauben wir einen moralischen <lb n="pvi_1461.037"/> Unwillen über die Welt zu empfinden, wenn uns blos der Widerstreit derselben <lb n="pvi_1461.038"/> mit unserer Reigung erbittert; – die pathetische Satyre muß jederzeit <lb n="pvi_1461.039"/> aus einem Gemüthe fließen, welches vom Jdeale lebhaft durchdrungen ist“ <lb n="pvi_1461.040"/> (Schiller Ueber naive und sentim. Dichtung. Werke B. 18, S. 252. 254). <lb n="pvi_1461.041"/> Die Satyre hat von einem durchaus persönlichen, wilden Schimpfen und </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1461/0323]
pvi_1461.001
mehr sich aber die Satyre zum eigentlichen Drama entwickelt, desto mehr pvi_1461.002
ist ihr der Aufschwung zum ächt Komischen gesichert, ja mehr noch, als im pvi_1461.003
Epischen, weil die Selbstverwandlung des Dichters in seine Personen ihn pvi_1461.004
entschiedener aus dem Standpuncte der Entgegensetzung gegen die Welt, der pvi_1461.005
seine Grundlage bildet, in die Trunkenheit des wirklichen Humors hineinreißt. pvi_1461.006
Auf Aristophanes haben wir in dieser Beziehung schon öfters hingewiesen. pvi_1461.007
–
pvi_1461.008
Die directe oder positive Satyre hält das Jdeal ausgesprochener Maaßen pvi_1461.009
an den Gegenstand, zeigt dessen Schlechtigkeit in offenem Angriff auf und pvi_1461.010
gehört also entschiedener dem Boden der prosaischen Trennung zwischen der pvi_1461.011
Jdee und der Welt an. Sie verfährt daher auch meist monologisch, tritt in pvi_1461.012
Briefen, Abhandlungsform u. dergl. in der eigenen Person auf. Es ist pvi_1461.013
damit zugleich gesagt, daß, wie in der Stimmung die freie Heiterkeit, welche pvi_1461.014
ihre Narren liebt und geneigt ist, das eigene Jch unter den komischen pvi_1461.015
Widerspruch zu subsumiren, so im poetischen Acte die Objectivirung nicht pvi_1461.016
eintritt; daher in Vergleichung mit den Zweigen der Poesie nur eine Verwandtschaft pvi_1461.017
mit dem Lyrischen übrig bleibt. Die directe Satyre wäre daher pvi_1461.018
überhaupt nicht ästhetisch, sondern ethisch, wenn sie nicht im Einzelnen pvi_1461.019
komischer Mittel, natürlich im Wesentlichen des Witzes, sich bediente, und pvi_1461.020
da die objectivste Form des Witzes die Jronie ist (vergl. §. 201–204), so pvi_1461.021
folgt, daß ihr Verfahren, wenn sie zu dieser greift, am nächsten an die pvi_1461.022
höhere und freiere Natur der indirecten Satyre grenzt. Das Lob der Narrheit pvi_1461.023
von Erasmus und die ironischen Abhandlungen von Liscow mögen pvi_1461.024
als Beispiele genannt werden. Allein hier schwächt sich auch die praktische pvi_1461.025
Gewalt einer Aeußerung des Geistes ab, die als beißendes Salz der trägen pvi_1461.026
Masse des geschichtlichen Lebens unentbehrlich ist. Verdorbene Zustände pvi_1461.027
wollen nicht mit der versteckt lachenden Jronie, sondern mit der äzenden pvi_1461.028
Schärfe einer gründlichen Erbitterung bearbeitet, durchbohrt sein, der ästhetische pvi_1461.029
Standpunct weicht dem ethischen, dem das Verhüllte zu matt, zu schwächlich pvi_1461.030
ist. Fortgesetzte Jronie ist daher etwas Veraltetes, ist Rokoko, wir pvi_1461.031
ertragen das schleppende Hinterhalten nicht mehr. Es versteht sich, daß, je pvi_1461.032
mehr bei diesem positiv satyrischen Verhalten der ästhetische Standpunct hinter pvi_1461.033
den ethischen zurücktritt, desto ausdrücklicher ein reiner Haß gefordert werden pvi_1461.034
muß, der aus der Jdee fließt: „die Abneigung könnte auch eine blos sinnliche pvi_1461.035
Quelle haben und lediglich in Bedürfniß gegründet sein, mit welchem pvi_1461.036
die Wirklichkeit streitet, und häufig genug glauben wir einen moralischen pvi_1461.037
Unwillen über die Welt zu empfinden, wenn uns blos der Widerstreit derselben pvi_1461.038
mit unserer Reigung erbittert; – die pathetische Satyre muß jederzeit pvi_1461.039
aus einem Gemüthe fließen, welches vom Jdeale lebhaft durchdrungen ist“ pvi_1461.040
(Schiller Ueber naive und sentim. Dichtung. Werke B. 18, S. 252. 254). pvi_1461.041
Die Satyre hat von einem durchaus persönlichen, wilden Schimpfen und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |