Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1184.001 §. 842. pvi_1184.0061. Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des pvi_1184.007 1. Der Dichter zeigt Gestalten, bewegte Gestalten und bewegt in einer pvi_1184.018
pvi_1184.001 §. 842. pvi_1184.0061. Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des pvi_1184.007 1. Der Dichter zeigt Gestalten, bewegte Gestalten und bewegt in einer pvi_1184.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0046" n="1184"/><lb n="pvi_1184.001"/> einen ganzen, mächtigen Strom, der das unendliche Leben spiegelt, wälzt <lb n="pvi_1184.002"/> er gewaltig vor unserem Jnnern vorüber. Die Schwierigkeiten, denen er <lb n="pvi_1184.003"/> nach dem vorh. §. unterliegt, sind darin keine absoluten Hindernisse, sie <lb n="pvi_1184.004"/> bedingen nur gewisse Gesetze des Verfahrens und ein gewisses Maaß.</hi> </p> <lb n="pvi_1184.005"/> <p> <hi rendition="#c">§. 842.</hi> </p> <lb n="pvi_1184.006"/> <note place="left">1.</note> <p> Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des <lb n="pvi_1184.007"/> Jnhalts von §. 837 mit §. 841: die also bewegte Gestaltenwelt erscheint nicht <lb n="pvi_1184.008"/> nur allen Sinnen, sondern dem innern Gehör wesentlich in der Form der <lb n="pvi_1184.009"/> Sprache, welche Alles in das volle <hi rendition="#g">Bewußtsein</hi> erhebt. Mit der gesammten <lb n="pvi_1184.010"/> sichtbaren Welt kommt also die gesammte <hi rendition="#g">innere</hi> zur Darstellung und zwar <lb n="pvi_1184.011"/> so, daß jene sich in diese, diese aber schließlich zur <hi rendition="#g">Handlung</hi> als dem wahren <lb n="pvi_1184.012"/> Ziele der dichterischen Weltauffassung concentrirt, welche demnach das Schöne <lb n="pvi_1184.013"/> <note place="left">2.</note>wahrhaft in der Form der Persönlichkeit (§. 19) verwirklicht. Die Handlung <lb n="pvi_1184.014"/> begreift auch abstracte Gedanken in sich und solche sind, wofern sie nur durch <lb n="pvi_1184.015"/> Empfindung und Leidenschaft mit Veränderungen der Außenwelt in innerem <lb n="pvi_1184.016"/> Zusammenhang stehen, von der Dichtkunst keineswegs ausgeschlossen.</p> <lb n="pvi_1184.017"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Der Dichter zeigt Gestalten, bewegte Gestalten und bewegt in einer <lb n="pvi_1184.018"/> Reihe von Momenten, wir sehen sie, wir hören sie innerlich. Wir hören <lb n="pvi_1184.019"/> sie aber nicht nur tönen, seufzen, lachen, weinen, sondern auch <hi rendition="#g">sprechen.</hi> <lb n="pvi_1184.020"/> Der Dichter spricht selbst, er erzählt, was seine Personen sprechen, er kann <lb n="pvi_1184.021"/> sie auch in der <hi rendition="#aq">oratio recta</hi> sprechen lassen. Er sagt uns, wie seine Personen <lb n="pvi_1184.022"/> das Geheimniß der Welt, alle Berührungen zwischen Welt und Mensch <lb n="pvi_1184.023"/> auffassen, er sagt uns, wie er selbst es auffaßt, er deutet Alles. Darin <lb n="pvi_1184.024"/> erst vollendet sich der Begriff der Einheit des Subjectiven und Objectiven <lb n="pvi_1184.025"/> in der Dichtkunst: Alles geht in's Jnnere, wird zum Jnnern, wird hier <lb n="pvi_1184.026"/> durch die Sprache zu einem Bewußten, und umgekehrt: aller Ausfluß des <lb n="pvi_1184.027"/> menschlichen Jnnern in der Welt, der zur Darstellung kommt, wird mit der <lb n="pvi_1184.028"/> Ausdrücklichkeit des Worts auf diese seine Quelle zurückgeführt. Zunächst <lb n="pvi_1184.029"/> ist also klar, daß hiemit erst die Lichtfackel in das Jnnere getragen ist; alle <lb n="pvi_1184.030"/> Kunst stellt das Jnnere dar, entfaltet die Welt, wie sie der Geist beleuchtet, <lb n="pvi_1184.031"/> aber wo das Wort fehlt, treten doch nur dämmernd und höchst unvollständig <lb n="pvi_1184.032"/> die weiten Gewölbe der unendlichen Jnnenwelt in's Licht. Was ein Menschenherz <lb n="pvi_1184.033"/> in sich bewegen, was es thun und leiden kann, in welchen unermeßlichen <lb n="pvi_1184.034"/> Weisen die Welt es anregt, welche Abgründe und Höhen in ihm <lb n="pvi_1184.035"/> sich aufthun, welche unendlichen Kämpfe sich in ihm entspinnen, in welchen <lb n="pvi_1184.036"/> verwickelten Prozessen die Leidenschaften, die Entschlüsse, die Charaktere reifen, <lb n="pvi_1184.037"/> welche Empfindungen ganze Massen, welche Kräfte die mächtige Wucht des <lb n="pvi_1184.038"/> Gemeinlebens beherrschen, welche Jdeen die Geschichte regieren: Alles wird </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1184/0046]
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einen ganzen, mächtigen Strom, der das unendliche Leben spiegelt, wälzt pvi_1184.002
er gewaltig vor unserem Jnnern vorüber. Die Schwierigkeiten, denen er pvi_1184.003
nach dem vorh. §. unterliegt, sind darin keine absoluten Hindernisse, sie pvi_1184.004
bedingen nur gewisse Gesetze des Verfahrens und ein gewisses Maaß.
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§. 842.
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Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des pvi_1184.007
Jnhalts von §. 837 mit §. 841: die also bewegte Gestaltenwelt erscheint nicht pvi_1184.008
nur allen Sinnen, sondern dem innern Gehör wesentlich in der Form der pvi_1184.009
Sprache, welche Alles in das volle Bewußtsein erhebt. Mit der gesammten pvi_1184.010
sichtbaren Welt kommt also die gesammte innere zur Darstellung und zwar pvi_1184.011
so, daß jene sich in diese, diese aber schließlich zur Handlung als dem wahren pvi_1184.012
Ziele der dichterischen Weltauffassung concentrirt, welche demnach das Schöne pvi_1184.013
wahrhaft in der Form der Persönlichkeit (§. 19) verwirklicht. Die Handlung pvi_1184.014
begreift auch abstracte Gedanken in sich und solche sind, wofern sie nur durch pvi_1184.015
Empfindung und Leidenschaft mit Veränderungen der Außenwelt in innerem pvi_1184.016
Zusammenhang stehen, von der Dichtkunst keineswegs ausgeschlossen.
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1. Der Dichter zeigt Gestalten, bewegte Gestalten und bewegt in einer pvi_1184.018
Reihe von Momenten, wir sehen sie, wir hören sie innerlich. Wir hören pvi_1184.019
sie aber nicht nur tönen, seufzen, lachen, weinen, sondern auch sprechen. pvi_1184.020
Der Dichter spricht selbst, er erzählt, was seine Personen sprechen, er kann pvi_1184.021
sie auch in der oratio recta sprechen lassen. Er sagt uns, wie seine Personen pvi_1184.022
das Geheimniß der Welt, alle Berührungen zwischen Welt und Mensch pvi_1184.023
auffassen, er sagt uns, wie er selbst es auffaßt, er deutet Alles. Darin pvi_1184.024
erst vollendet sich der Begriff der Einheit des Subjectiven und Objectiven pvi_1184.025
in der Dichtkunst: Alles geht in's Jnnere, wird zum Jnnern, wird hier pvi_1184.026
durch die Sprache zu einem Bewußten, und umgekehrt: aller Ausfluß des pvi_1184.027
menschlichen Jnnern in der Welt, der zur Darstellung kommt, wird mit der pvi_1184.028
Ausdrücklichkeit des Worts auf diese seine Quelle zurückgeführt. Zunächst pvi_1184.029
ist also klar, daß hiemit erst die Lichtfackel in das Jnnere getragen ist; alle pvi_1184.030
Kunst stellt das Jnnere dar, entfaltet die Welt, wie sie der Geist beleuchtet, pvi_1184.031
aber wo das Wort fehlt, treten doch nur dämmernd und höchst unvollständig pvi_1184.032
die weiten Gewölbe der unendlichen Jnnenwelt in's Licht. Was ein Menschenherz pvi_1184.033
in sich bewegen, was es thun und leiden kann, in welchen unermeßlichen pvi_1184.034
Weisen die Welt es anregt, welche Abgründe und Höhen in ihm pvi_1184.035
sich aufthun, welche unendlichen Kämpfe sich in ihm entspinnen, in welchen pvi_1184.036
verwickelten Prozessen die Leidenschaften, die Entschlüsse, die Charaktere reifen, pvi_1184.037
welche Empfindungen ganze Massen, welche Kräfte die mächtige Wucht des pvi_1184.038
Gemeinlebens beherrschen, welche Jdeen die Geschichte regieren: Alles wird
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