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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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Flügel an der Wurzel ab, und ließ sie dann zur Erde fallen, worauf
sie mit sichtlicher Aengstlichkeit ihr Nest untersuchte und als sie kein Ei
darin fand, auf's Neue zum Einsammeln wegflog. Die Mauerbiene
mußte ohne Zweifel der Ueberzeugung sein, daß sie der Goldwespe
die Möglichkeit benommen habe, ohne Flügel auf's Neue an ihr Nest
zu gelangen. Allein diese Berechnung war irrig. Die an der Erde
liegende Goldwespe entrollte sich, sobald die Mauerbiene ihr Nest ver-
lassen hatte, kroch in gerader Linie zu dem Neste hinauf und legte ihr
Ei in dasselbe.

Einer meiner Freunde machte folgende Beobachtung. Die Amei-
sen fraßen ihm die Früchte eines Kirschbaumes weg. Um sie ab-
zuhalten, beschmierte er den Stamm ringsum in der Breite eines Zolles
mit dickem Tabaksschmante, den er zu diesem Behufe gesammelt hatte.
Die Ameisen, welche in Schaaren den Baum hinaufzogen, kehrten an
dem übelriechenden klebrigen Ringe um: die, welche von dem Baume
zurückkehren wollten, wagten nicht den Ring zu überschreiten, sondern
kletterten wieder hinauf und ließen sich von den Aesten zur Erde fal-
len. Der Baum war bald von seinen Gästen befreit. Nach kurzer
Zeit aber marschirten die Ameisen in Schaaren an dem Stamme hin-
auf. Jede trug in ihren Kiefern ein Stückchen Erde, und mit äu-
ßerster Vorsicht wurde ein Bällchen neben das andere auf den Tabaks-
schmant gelegt und so nach und nach eine wahrhafte gepflasterte Straße
hergestellt, welche die Thiere mit großer Emsigkeit befestigten und
verbreiteten, bis ihr Durchmesser etwa einen halben Zoll betrug. Nun
konnte ihre Colonne auf's Neue mit Sicherheit den Baum hinauf-
klettern, der auch in der That bald mit Näschern bevölkert war. Wo
ist nun, dürfen wir wohl gegenüber solchen Beobachtungen fragen,
die Gränze zwischen Instinkt und Verstand?

Bei der ungeheueren Anzahl der Insekten und den so verschieden-
artigen Modificationen ihrer Typen ist ihre Eintheilung eine schwierige
Aufgabe. Man hat vielfach bald die Flügel, bald die Kauwerkzeuge,
bald die Art der Verwandelung als erstes Hauptmoment der Einthei-
lung angenommen. Für uns erscheint die zahlreiche Klasse aus drei
Unterklassen zusammengesetzt, die wir in den Insekten ohne Verwand-
lung, mit unvollkommener Verwandlung und mit vollkommener Ver-
wandlung finden. Indem wir dann die Mundwerkzeuge, sowie die
Beschaffenheit der Flügel in zweiter Linie betrachten, erhalten wir
folgendes Schema:


Flügel an der Wurzel ab, und ließ ſie dann zur Erde fallen, worauf
ſie mit ſichtlicher Aengſtlichkeit ihr Neſt unterſuchte und als ſie kein Ei
darin fand, auf’s Neue zum Einſammeln wegflog. Die Mauerbiene
mußte ohne Zweifel der Ueberzeugung ſein, daß ſie der Goldweſpe
die Möglichkeit benommen habe, ohne Flügel auf’s Neue an ihr Neſt
zu gelangen. Allein dieſe Berechnung war irrig. Die an der Erde
liegende Goldweſpe entrollte ſich, ſobald die Mauerbiene ihr Neſt ver-
laſſen hatte, kroch in gerader Linie zu dem Neſte hinauf und legte ihr
Ei in daſſelbe.

Einer meiner Freunde machte folgende Beobachtung. Die Amei-
ſen fraßen ihm die Früchte eines Kirſchbaumes weg. Um ſie ab-
zuhalten, beſchmierte er den Stamm ringsum in der Breite eines Zolles
mit dickem Tabaksſchmante, den er zu dieſem Behufe geſammelt hatte.
Die Ameiſen, welche in Schaaren den Baum hinaufzogen, kehrten an
dem übelriechenden klebrigen Ringe um: die, welche von dem Baume
zurückkehren wollten, wagten nicht den Ring zu überſchreiten, ſondern
kletterten wieder hinauf und ließen ſich von den Aeſten zur Erde fal-
len. Der Baum war bald von ſeinen Gäſten befreit. Nach kurzer
Zeit aber marſchirten die Ameiſen in Schaaren an dem Stamme hin-
auf. Jede trug in ihren Kiefern ein Stückchen Erde, und mit äu-
ßerſter Vorſicht wurde ein Bällchen neben das andere auf den Tabaks-
ſchmant gelegt und ſo nach und nach eine wahrhafte gepflaſterte Straße
hergeſtellt, welche die Thiere mit großer Emſigkeit befeſtigten und
verbreiteten, bis ihr Durchmeſſer etwa einen halben Zoll betrug. Nun
konnte ihre Colonne auf’s Neue mit Sicherheit den Baum hinauf-
klettern, der auch in der That bald mit Näſchern bevölkert war. Wo
iſt nun, dürfen wir wohl gegenüber ſolchen Beobachtungen fragen,
die Gränze zwiſchen Inſtinkt und Verſtand?

Bei der ungeheueren Anzahl der Inſekten und den ſo verſchieden-
artigen Modificationen ihrer Typen iſt ihre Eintheilung eine ſchwierige
Aufgabe. Man hat vielfach bald die Flügel, bald die Kauwerkzeuge,
bald die Art der Verwandelung als erſtes Hauptmoment der Einthei-
lung angenommen. Für uns erſcheint die zahlreiche Klaſſe aus drei
Unterklaſſen zuſammengeſetzt, die wir in den Inſekten ohne Verwand-
lung, mit unvollkommener Verwandlung und mit vollkommener Ver-
wandlung finden. Indem wir dann die Mundwerkzeuge, ſowie die
Beſchaffenheit der Flügel in zweiter Linie betrachten, erhalten wir
folgendes Schema:


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[555/0561] Flügel an der Wurzel ab, und ließ ſie dann zur Erde fallen, worauf ſie mit ſichtlicher Aengſtlichkeit ihr Neſt unterſuchte und als ſie kein Ei darin fand, auf’s Neue zum Einſammeln wegflog. Die Mauerbiene mußte ohne Zweifel der Ueberzeugung ſein, daß ſie der Goldweſpe die Möglichkeit benommen habe, ohne Flügel auf’s Neue an ihr Neſt zu gelangen. Allein dieſe Berechnung war irrig. Die an der Erde liegende Goldweſpe entrollte ſich, ſobald die Mauerbiene ihr Neſt ver- laſſen hatte, kroch in gerader Linie zu dem Neſte hinauf und legte ihr Ei in daſſelbe. Einer meiner Freunde machte folgende Beobachtung. Die Amei- ſen fraßen ihm die Früchte eines Kirſchbaumes weg. Um ſie ab- zuhalten, beſchmierte er den Stamm ringsum in der Breite eines Zolles mit dickem Tabaksſchmante, den er zu dieſem Behufe geſammelt hatte. Die Ameiſen, welche in Schaaren den Baum hinaufzogen, kehrten an dem übelriechenden klebrigen Ringe um: die, welche von dem Baume zurückkehren wollten, wagten nicht den Ring zu überſchreiten, ſondern kletterten wieder hinauf und ließen ſich von den Aeſten zur Erde fal- len. Der Baum war bald von ſeinen Gäſten befreit. Nach kurzer Zeit aber marſchirten die Ameiſen in Schaaren an dem Stamme hin- auf. Jede trug in ihren Kiefern ein Stückchen Erde, und mit äu- ßerſter Vorſicht wurde ein Bällchen neben das andere auf den Tabaks- ſchmant gelegt und ſo nach und nach eine wahrhafte gepflaſterte Straße hergeſtellt, welche die Thiere mit großer Emſigkeit befeſtigten und verbreiteten, bis ihr Durchmeſſer etwa einen halben Zoll betrug. Nun konnte ihre Colonne auf’s Neue mit Sicherheit den Baum hinauf- klettern, der auch in der That bald mit Näſchern bevölkert war. Wo iſt nun, dürfen wir wohl gegenüber ſolchen Beobachtungen fragen, die Gränze zwiſchen Inſtinkt und Verſtand? Bei der ungeheueren Anzahl der Inſekten und den ſo verſchieden- artigen Modificationen ihrer Typen iſt ihre Eintheilung eine ſchwierige Aufgabe. Man hat vielfach bald die Flügel, bald die Kauwerkzeuge, bald die Art der Verwandelung als erſtes Hauptmoment der Einthei- lung angenommen. Für uns erſcheint die zahlreiche Klaſſe aus drei Unterklaſſen zuſammengeſetzt, die wir in den Inſekten ohne Verwand- lung, mit unvollkommener Verwandlung und mit vollkommener Ver- wandlung finden. Indem wir dann die Mundwerkzeuge, ſowie die Beſchaffenheit der Flügel in zweiter Linie betrachten, erhalten wir folgendes Schema:

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/561>, abgerufen am 23.12.2024.