Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Guido und sein Lehrer sahen noch Tausend
Merkwürdigkeiten, welche aufzuzählen der Raum
hier nicht gestattet. Unter andern folgende auf der
Anatomie, welche sie als eine der vorzüglichsten
Anstalten zu Paris besuchten, und wohin sich
jetzt eine große Zahl gespannter Neugierigen
drängte.

Die Veranlassung war diese:

Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung
von ganz Europa, ein Bürger in Paris mehrere
todeswürdige Verbrechen begangen. Das Gesetz
zauderte lange mit seinem Spruch, und wollte
ihn endlich nach Spitzbergen verweisen, wohin,
wie wir schon wissen, solche Unglückliche kamen,
deren Vernunft sie nicht von der Schönheit ei¬
nes gesetzlichen Lebens überzeugen konnte. Die
Kolonie in Spitzbergen hörte aber davon, und
indem jeder Einzelne dort sich rein gegen jenen
Bösewicht halten konnte, schrieb sie an das Ge¬
richt und verbat die Verunehrung.

Man wankte von einer Meinung zur anderen.
Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬
ropa keine Todesstrafe zuerkannt worden, es gab
keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch
hatte der Mensch die Todesstrafe vollkommen

Guido und ſein Lehrer ſahen noch Tauſend
Merkwuͤrdigkeiten, welche aufzuzaͤhlen der Raum
hier nicht geſtattet. Unter andern folgende auf der
Anatomie, welche ſie als eine der vorzuͤglichſten
Anſtalten zu Paris beſuchten, und wohin ſich
jetzt eine große Zahl geſpannter Neugierigen
draͤngte.

Die Veranlaſſung war dieſe:

Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung
von ganz Europa, ein Buͤrger in Paris mehrere
todeswuͤrdige Verbrechen begangen. Das Geſetz
zauderte lange mit ſeinem Spruch, und wollte
ihn endlich nach Spitzbergen verweiſen, wohin,
wie wir ſchon wiſſen, ſolche Ungluͤckliche kamen,
deren Vernunft ſie nicht von der Schoͤnheit ei¬
nes geſetzlichen Lebens uͤberzeugen konnte. Die
Kolonie in Spitzbergen hoͤrte aber davon, und
indem jeder Einzelne dort ſich rein gegen jenen
Boͤſewicht halten konnte, ſchrieb ſie an das Ge¬
richt und verbat die Verunehrung.

Man wankte von einer Meinung zur anderen.
Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬
ropa keine Todesſtrafe zuerkannt worden, es gab
keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch
hatte der Menſch die Todesſtrafe vollkommen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0276" n="264"/>
          <p>Guido und &#x017F;ein Lehrer &#x017F;ahen noch Tau&#x017F;end<lb/>
Merkwu&#x0364;rdigkeiten, welche aufzuza&#x0364;hlen der Raum<lb/>
hier nicht ge&#x017F;tattet. Unter andern folgende auf der<lb/>
Anatomie, welche &#x017F;ie als eine der vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten<lb/>
An&#x017F;talten zu Paris be&#x017F;uchten, und wohin &#x017F;ich<lb/>
jetzt eine große Zahl ge&#x017F;pannter Neugierigen<lb/>
dra&#x0364;ngte.</p><lb/>
          <p>Die Veranla&#x017F;&#x017F;ung war die&#x017F;e:</p><lb/>
          <p>Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung<lb/>
von ganz Europa, ein Bu&#x0364;rger in Paris mehrere<lb/>
todeswu&#x0364;rdige Verbrechen begangen. Das Ge&#x017F;etz<lb/>
zauderte lange mit &#x017F;einem Spruch, und wollte<lb/>
ihn endlich nach Spitzbergen verwei&#x017F;en, wohin,<lb/>
wie wir &#x017F;chon wi&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;olche Unglu&#x0364;ckliche kamen,<lb/>
deren Vernunft &#x017F;ie nicht von der Scho&#x0364;nheit ei¬<lb/>
nes ge&#x017F;etzlichen Lebens u&#x0364;berzeugen konnte. Die<lb/>
Kolonie in Spitzbergen ho&#x0364;rte aber davon, und<lb/>
indem jeder Einzelne dort &#x017F;ich rein gegen jenen<lb/>
Bo&#x0364;&#x017F;ewicht halten konnte, &#x017F;chrieb &#x017F;ie an das Ge¬<lb/>
richt und verbat die Verunehrung.</p><lb/>
          <p>Man wankte von einer Meinung zur anderen.<lb/>
Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬<lb/>
ropa keine Todes&#x017F;trafe zuerkannt worden, es gab<lb/>
keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch<lb/>
hatte der Men&#x017F;ch die Todes&#x017F;trafe vollkommen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0276] Guido und ſein Lehrer ſahen noch Tauſend Merkwuͤrdigkeiten, welche aufzuzaͤhlen der Raum hier nicht geſtattet. Unter andern folgende auf der Anatomie, welche ſie als eine der vorzuͤglichſten Anſtalten zu Paris beſuchten, und wohin ſich jetzt eine große Zahl geſpannter Neugierigen draͤngte. Die Veranlaſſung war dieſe: Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung von ganz Europa, ein Buͤrger in Paris mehrere todeswuͤrdige Verbrechen begangen. Das Geſetz zauderte lange mit ſeinem Spruch, und wollte ihn endlich nach Spitzbergen verweiſen, wohin, wie wir ſchon wiſſen, ſolche Ungluͤckliche kamen, deren Vernunft ſie nicht von der Schoͤnheit ei¬ nes geſetzlichen Lebens uͤberzeugen konnte. Die Kolonie in Spitzbergen hoͤrte aber davon, und indem jeder Einzelne dort ſich rein gegen jenen Boͤſewicht halten konnte, ſchrieb ſie an das Ge¬ richt und verbat die Verunehrung. Man wankte von einer Meinung zur anderen. Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬ ropa keine Todesſtrafe zuerkannt worden, es gab keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch hatte der Menſch die Todesſtrafe vollkommen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/276
Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/276>, abgerufen am 22.11.2024.