Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Aber sobald du das Ufer mit deinen Händen berührest,
Löse den Schleier ab, und wirf ihn ferne vom Ufer
In das finstere Meer, mit abgewendetem Antliz. 350

Also sprach die Göttin, und gab ihm den heiligen Schleier;
Fuhr dann wieder hinab in die hochaufwallende Woge,
Aehnlich dem Waßerhuhn, und die schwarze Woge verschlang sie.
Und nun sann er umher, der herrliche Dulder Odüßeus;
Tiefaufseufzend sprach er zu seiner erhabenen Seele: 355

Weh mir! ich fürchte, mich will der Unsterblichen einer von neuem
Hintergehn, der mir vom Floße zu steigen gebietet!
Aber noch will ich ihm nicht gehorchen; denn eben erblickt' ich
Ferne von hinnen das Land, wo jene mir Rettung gelobte.
Also will ich es machen, denn dieses scheint mir das Beßte! 360
Weil die Balken noch fest in ihren Banden sich halten,
Bleib' ich hier, und erwarte mit duldender Seele mein Schicksal.
Aber wann mir den Floß die Gewalt des Meeres zertrümmert,
Dann will ich schwimmen; ich weiß mir ja doch nicht beßer zu rathen!

Als er solche Gedanken im zweifelnden Herzen bewegte, 365
Siehe da sandte Poseidon, der Erdumstürmer, ein hohes
Steiles schreckliches Waßergebirg'; und es stürzt' auf ihn nieder.
Und wie der stürmende Wind in die trockene Spreu auf der Tenne
Ungestüm fährt, und im Wirbel sie hiehin und dorthin zerstreuet;
Also zerstreute die Flut ihm die Balken. Aber Odüßeus 370
Schwung sich auf einen, und saß, wie auf dem Roße der Reuter;
Warf die Kleider hinweg, die ihm Kalüpso geschenket,
Und umhüllte die Brust mit Ino's heiligem Schleier.
Vorwärts sprang er hinab in das Meer, die Hände verbreitet,
Und schwamm eilend dahin. Da sah ihn der starke Poseidon, 375

Oduͤßee.
Aber ſobald du das Ufer mit deinen Haͤnden beruͤhreſt,
Loͤſe den Schleier ab, und wirf ihn ferne vom Ufer
In das finſtere Meer, mit abgewendetem Antliz. 350

Alſo ſprach die Goͤttin, und gab ihm den heiligen Schleier;
Fuhr dann wieder hinab in die hochaufwallende Woge,
Aehnlich dem Waßerhuhn, und die ſchwarze Woge verſchlang ſie.
Und nun ſann er umher, der herrliche Dulder Oduͤßeus;
Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele: 355

Weh mir! ich fuͤrchte, mich will der Unſterblichen einer von neuem
Hintergehn, der mir vom Floße zu ſteigen gebietet!
Aber noch will ich ihm nicht gehorchen; denn eben erblickt' ich
Ferne von hinnen das Land, wo jene mir Rettung gelobte.
Alſo will ich es machen, denn dieſes ſcheint mir das Beßte! 360
Weil die Balken noch feſt in ihren Banden ſich halten,
Bleib' ich hier, und erwarte mit duldender Seele mein Schickſal.
Aber wann mir den Floß die Gewalt des Meeres zertruͤmmert,
Dann will ich ſchwimmen; ich weiß mir ja doch nicht beßer zu rathen!

Als er ſolche Gedanken im zweifelnden Herzen bewegte, 365
Siehe da ſandte Poſeidon, der Erdumſtuͤrmer, ein hohes
Steiles ſchreckliches Waßergebirg'; und es ſtuͤrzt' auf ihn nieder.
Und wie der ſtuͤrmende Wind in die trockene Spreu auf der Tenne
Ungeſtuͤm faͤhrt, und im Wirbel ſie hiehin und dorthin zerſtreuet;
Alſo zerſtreute die Flut ihm die Balken. Aber Oduͤßeus 370
Schwung ſich auf einen, und ſaß, wie auf dem Roße der Reuter;
Warf die Kleider hinweg, die ihm Kaluͤpſo geſchenket,
Und umhuͤllte die Bruſt mit Ino's heiligem Schleier.
Vorwaͤrts ſprang er hinab in das Meer, die Haͤnde verbreitet,
Und ſchwamm eilend dahin. Da ſah ihn der ſtarke Poſeidon, 375

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0114" n="108"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Aber &#x017F;obald du das Ufer mit deinen Ha&#x0364;nden beru&#x0364;hre&#x017F;t,<lb/>
Lo&#x0364;&#x017F;e den Schleier ab, und wirf ihn ferne vom Ufer<lb/>
In das fin&#x017F;tere Meer, mit abgewendetem Antliz. <note place="right">350</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach die Go&#x0364;ttin, und gab ihm den heiligen Schleier;<lb/>
Fuhr dann wieder hinab in die hochaufwallende Woge,<lb/>
Aehnlich dem Waßerhuhn, und die &#x017F;chwarze Woge ver&#x017F;chlang &#x017F;ie.<lb/>
Und nun &#x017F;ann er umher, der herrliche Dulder Odu&#x0364;ßeus;<lb/>
Tiefauf&#x017F;eufzend &#x017F;prach er zu &#x017F;einer erhabenen Seele: <note place="right">355</note></p><lb/>
        <p>Weh mir! ich fu&#x0364;rchte, mich will der Un&#x017F;terblichen einer von neuem<lb/>
Hintergehn, der mir vom Floße zu &#x017F;teigen gebietet!<lb/>
Aber noch will ich ihm nicht gehorchen; denn eben erblickt' ich<lb/>
Ferne von hinnen das Land, wo jene mir Rettung gelobte.<lb/>
Al&#x017F;o will ich es machen, denn die&#x017F;es &#x017F;cheint mir das Beßte! <note place="right">360</note><lb/>
Weil die Balken noch fe&#x017F;t in ihren Banden &#x017F;ich halten,<lb/>
Bleib' ich hier, und erwarte mit duldender Seele mein Schick&#x017F;al.<lb/>
Aber wann mir den Floß die Gewalt des Meeres zertru&#x0364;mmert,<lb/>
Dann will ich &#x017F;chwimmen; ich weiß mir ja doch nicht beßer zu rathen!</p><lb/>
        <p>Als er &#x017F;olche Gedanken im zweifelnden Herzen bewegte, <note place="right">365</note><lb/>
Siehe da &#x017F;andte Po&#x017F;eidon, der Erdum&#x017F;tu&#x0364;rmer, ein hohes<lb/>
Steiles &#x017F;chreckliches Waßergebirg'; und es &#x017F;tu&#x0364;rzt' auf ihn nieder.<lb/>
Und wie der &#x017F;tu&#x0364;rmende Wind in die trockene Spreu auf der Tenne<lb/>
Unge&#x017F;tu&#x0364;m fa&#x0364;hrt, und im Wirbel &#x017F;ie hiehin und dorthin zer&#x017F;treuet;<lb/>
Al&#x017F;o zer&#x017F;treute die Flut ihm die Balken. Aber Odu&#x0364;ßeus <note place="right">370</note><lb/>
Schwung &#x017F;ich auf einen, und &#x017F;aß, wie auf dem Roße der Reuter;<lb/>
Warf die Kleider hinweg, die ihm Kalu&#x0364;p&#x017F;o ge&#x017F;chenket,<lb/>
Und umhu&#x0364;llte die Bru&#x017F;t mit Ino's heiligem Schleier.<lb/>
Vorwa&#x0364;rts &#x017F;prang er hinab in das Meer, die Ha&#x0364;nde verbreitet,<lb/>
Und &#x017F;chwamm eilend dahin. Da &#x017F;ah ihn der &#x017F;tarke Po&#x017F;eidon, <note place="right">375</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0114] Oduͤßee. Aber ſobald du das Ufer mit deinen Haͤnden beruͤhreſt, Loͤſe den Schleier ab, und wirf ihn ferne vom Ufer In das finſtere Meer, mit abgewendetem Antliz. 350 Alſo ſprach die Goͤttin, und gab ihm den heiligen Schleier; Fuhr dann wieder hinab in die hochaufwallende Woge, Aehnlich dem Waßerhuhn, und die ſchwarze Woge verſchlang ſie. Und nun ſann er umher, der herrliche Dulder Oduͤßeus; Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele: 355 Weh mir! ich fuͤrchte, mich will der Unſterblichen einer von neuem Hintergehn, der mir vom Floße zu ſteigen gebietet! Aber noch will ich ihm nicht gehorchen; denn eben erblickt' ich Ferne von hinnen das Land, wo jene mir Rettung gelobte. Alſo will ich es machen, denn dieſes ſcheint mir das Beßte! Weil die Balken noch feſt in ihren Banden ſich halten, Bleib' ich hier, und erwarte mit duldender Seele mein Schickſal. Aber wann mir den Floß die Gewalt des Meeres zertruͤmmert, Dann will ich ſchwimmen; ich weiß mir ja doch nicht beßer zu rathen! 360 Als er ſolche Gedanken im zweifelnden Herzen bewegte, Siehe da ſandte Poſeidon, der Erdumſtuͤrmer, ein hohes Steiles ſchreckliches Waßergebirg'; und es ſtuͤrzt' auf ihn nieder. Und wie der ſtuͤrmende Wind in die trockene Spreu auf der Tenne Ungeſtuͤm faͤhrt, und im Wirbel ſie hiehin und dorthin zerſtreuet; Alſo zerſtreute die Flut ihm die Balken. Aber Oduͤßeus Schwung ſich auf einen, und ſaß, wie auf dem Roße der Reuter; Warf die Kleider hinweg, die ihm Kaluͤpſo geſchenket, Und umhuͤllte die Bruſt mit Ino's heiligem Schleier. Vorwaͤrts ſprang er hinab in das Meer, die Haͤnde verbreitet, Und ſchwamm eilend dahin. Da ſah ihn der ſtarke Poſeidon, 365 370 375

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/114
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/114>, abgerufen am 21.11.2024.